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Diözesanbischof Dr. Kurt Krenn von St. Pölten

 

"De veritate":
Wahrheit in Glaube, Theologie und Kirche
Vortrag am Philosophischen Institut der Universität Wien am 18. Jänner 1997


Wenn mein heutiger Beitrag den Titel "De veritate" vorstellt, scheint es um ein Totum der Philosophie zu gehen, das nicht zu bewältigen ist und schon gar nicht in wenigen Minuten ausreichend abzuhandeln ist. Man kann die Frage nach der Wahrheit allmählich entfalten, in Themen und Perspektiven begrenzen, gewisse Voraussetzungen dafür einfach und undiskutiert annehmen oder den mühsamen Weg des Ganzen gehen.

Das bloße Wort "Wahrheit" provoziert zuweilen zu den verschiedensten Reaktionen menschlicher Irrationalität; das Wort allein reizt und spaltet die Geister der Menschen, auch wenn es darüber noch nicht die geringste Auseinandersetzung im Begriff gegeben hat. Im Lebensgefühl und in den kulturellen Formen unserer Zeit herrscht Aversion schon gegenüber dem bloßen Wort. Es wird sich im weiten Bereich des vernunfthaften Denkens weder aus der Tradition noch aus der Gegenwart eine von allen akzeptierte oder benützte Definition von Wahrheit ergeben; vielleicht kommt die Tautologie "Wahrheit ist Wahrheit" diesem Desiderat noch am nächsten. Eine tautologische Definition könnte manches einlösen, was mit Wahrheit zu tun haben könnte in dem Sinn: Wahrheit ist Wahrheit, und nicht mehr und nicht weniger als Wahrheit; Wahrheit gilt aus sich und in keiner äußeren Abhängigkeit; die Wahrheit stellt sich angemessen nur durch sich selbst dar; Wahrheit ist wesentlich Identität, die nicht ein faktischer Punkt, sondern eine grenzenlose Beziehung zu sich selbst ist.

Was einmal wahr ist, das ist als solches immer wahr, auch wenn der Tatbestand des Wahren in den Dingen längst beendet ist. Was einmal wahr ist, kann durch nichts mehr unwahr gemacht werden. Selbst Gott könnte nicht mehr unwahr machen, was wahr ist oder auch wahr gewesen ist. Bei solchen Gedanken stehen wir eher noch in formalen Fragen, die sich an sich selbst entwickeln und eher hypothetisch sind. Was sich jedoch auch schon in solchen Gedankenspielen zeigt, ist der Anspruch der Totalität in dem, was wahr sein soll. Selbst wenn gewisse Erkenntnisinhalte, die sich auf kontingente und begrenzte Dinge beziehen, Wahrheit beanspruchen, ist die Wahrheit solcher Inhalte zeitlos und von einer gewissen Unendlichkeit, die es nicht mehr zuläßt, daß etwas, was einmal wahr ist oder wahr gewesen ist, ganz aus der Totalität der Wahrheit herausfällt.

Solche Feststellungen sind eher noch oberflächlich und in sich noch nicht die volle Wahrheit über etwas, was sich als solche geltend macht. Dennoch dürfen wir hier schon eine gewisse Zusammengehörigkeit von Denken und Sein, von Begriff und Sein, von Erkenntnis und Erkanntem vermuten, die für die Wahrheit gewissermaßen konstituiert ist.

Ich würde beim heutigen Anlaß nicht die gestellten Erwartungen berücksichtigen, wollte ich nach Art einer abstrakten Reflexion "De veritate" abhandeln. Auch beim theologischen Denken, das eine ähnliche Totalität wie das philosophische Denken vertritt, ist das Problem des Anfangs ein delikates und schier unlösbares. Jeder Anfang ist unangemessen; dennoch brauchen Theologie und Philosophie einen Anfang, der bereits das Ganze als vernünftige Möglichkeit kennt und in dessen Fortsetzung den unendlichen Weg des vernünftigen Erkennens beschreitet. Der Anfang hebt sich im Weg schließlich auf, wobei der Weg nichts anderes als der entfaltete Anfang ist.

Es ist die Absicht dieser Ausführungen, die Notwendigkeit von Wahrheit als die Selbstgestaltung der Theologie aufzuweisen. Im traditionellen Denken der Theologie, das bis heute von Thomas von Aquin geprägt ist, gilt die Beschreibung: "veritas est adaequatio rei et intellectus" (Nr. 1,1c), d.h. Wahrheit ist Übereinstimmung von Ding und Erkenntnis davon. Diese Übereinstimmung wiederum ist ein bewußtes Wissen, das dem erkennenden Subjekt innewohnt und sich auf das Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt bezieht. Nach Thomas hat die Wahrheit ihre Grundlage im erkannten Gegenstand, sie ist jedoch nur vollständig durch den Akt des Intellekts, wenn sie in der Weise ihres Seins erfaßt wird.

Die Wahrheit bedarf der sprachlichen Form des "Urteils", das den Sachverhalt des Erkennens im "Sein" und "Nicht-Sein" festhält. So setzt Aristoteles die Wahrheit damit fest: Wir sagen Wahres, wenn wir von dem, was ist, sagen, daß es ist; wir sagen Wahres, wenn wir von dem, was nicht ist, sagen, daß es nicht ist. Wir sagen Falsches, wenn wir von dem, was nicht ist, behaupten, daß es ist, und wir von dem, was ist, behaupten, daß es nicht ist. Wie es zwischen dem Sein und Nicht-Sein kein Drittes gibt und die Wahrheit im Sein und Nicht-Sein ausgesprochen wird, so gibt es nicht das mehr oder weniger Wahre bzw. Falsche. Der Gegensatz wahr / falsch läßt keine Abstufungen zu; der Unterschied wahr / falsch ist nicht graduell. Das Wahre ist nicht das Falsche, das Falsche ist nicht das Wahre. Was wir bereits vorhin in der tautologischen Formulierung "Wahrheit ist Wahrheit" bedacht haben, kehrt in der Totalität des Seinsurteils als total wesentlich und in nichts graduell wieder.

Das erkennende Subjekt und das erkannte Objekt gehören in ihrer Einheit und in ihrem Unterschied notwendig zum endlichen Erkennen. Subjekt und Objekt des Erkennens sind in ihrem Unterschied einander begrenzend und damit offenkundig Teile eines Ganzen, das jedoch innerlich einen zusammengesetzten Akt von Subjekt und Objekt abschließt. Obwohl alle Wirklichkeit dem Erkenntnisakt von Subjekt und Objekt zugeordnet ist, muß es eine Zuordnung von Subjekt und Objekt vor jedem einzeln gesetzten Erkenntnisakt geben.

Aus metaphysischer und theologischer Perspektive ist bezüglich der Wahrheit des menschlichen Erkennens festzuhalten, daß der vernünftige Erkenntnisakt, der im Zusammenwirken von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt liegt, als Akt nicht die Wahrheit erzeugt, sondern vielmehr sie entdeckend vorfindet. Ohne gewisse Vorgegebenheiten könnte der Erkenntnisakt nicht das Zusammengehen von Subjekt und Objekt mit einem absoluten Geltungsanspruch sein. Die traditionelle Metaphysik sieht in der Wahrheit des intellektuellen Erkennens dieses Ereignis von Identität: "intelligens in actu est intellectum in actu". Das heißt, daß das Erkennen ein Ereignis von Identität des Erkennenden und des Erkannten ist, daß die sich ereignende Identität jene Übereinstimmung ist, die wir bereits als "adaequatio rei et intellectus" beschrieben haben. Die Wahrheit in der Erkenntnis ruht voll in den Geltungen von Sein und Nicht-Sein, dennoch wird sie von der menschlichen Vernunft nicht geschaffen, sondern als Vorgegebenheit offenkundig gemacht.

Subjekt und Objekt treten in der wahren Erkenntnis wohl in eine gewisse Identität, sie vollziehen jedoch dabei eine Zusammengehörigkeit, für die weder Subjekt, noch Objekt, noch der Erkenntnisakt als solche ein ausreichender Grund sind. Was an der Wahrheit des Erkennens zeitlos, absolut und alles Seiende umgreifend ist, das hinterlegen Metaphysik und Theologie in Sein und Wesen Gottes. Gott ist der höchst Einfache, in dem Sein und Wesen ein und dasselbe sind; damit ist jede irgendwie geartete Zusammensetzung in Gott ausgeschlossen. Was in den Geschöpfen das Merkmal des endlichen Begrenzten ist, kommt aus der "compositio" - der Zusammensetzung -, die Unterschied und Begrenzung in den geschaffenen Dingen bedingt. Das einfach Identische ist nur Gottes Sein, das auch sein Wesen ist. Das Zusammengesetzte bedeutet, daß es etwas gibt, was nicht das Selbst des Dinges ist: "in omni composito est aliquod quod non est ipsum" (1q 3,7c). Im Endlichen ist also immer eine Verneinung gegeben, die nichts Endliches einfach es selbst sein läßt. So gibt es neben der absoluten und vollkommenen Einfachheit Gottes in den endlich Seienden den Unterschied von Sein und Wesen und von Sein und Werden, was Kontingenz und Vergänglichkeit der zusammengesetzten Seienden bedeutet.

Wenngleich wir den Vorgang der Erkenntnis der Wahrheit in unserem menschlichen Tun zu beschreiben wissen, brauchen wir den Grund für Wahrheit in dem, was jenseits der Endlichkeit diesen Grund offenkundig macht. Für Thomas von Aquin ist nicht nur die Wahrheit in Gott; vielmehr ist Gott selbst die höchste und erste Wahrheit selbst. Gott ist die höchste Wahrheit, denn sein göttliches Sein ist nicht nur seinem göttlichen Intellekt konform; Gottes Sein ist auch sein Erkennen; sein Erkennen wiederum ist Maß und Ursache jedes anderen Seins; Gott selbst ist sein Sein und Erkennen (vgl. 1q 16,5c).

Wenn wir von der Wahrheit reden, müssen wir von "Erkennen" reden, das entweder wahr oder falsch ist. Andere Wahrnehmungsfähigkeiten (wie die menschlichen Sinnesfähigkeiten) mögen zutreffend sein, doch sie sind im eigentlichen Sinn nicht wahr, weil sie nicht fähig sind, von der Wahrheit der Übereinstimmung Bewußtsein zu haben.

Wenn wir von unserem menschlichen Erkennen reden, geht es um Subjekt und Objekt, um eine Zusammengehörigkeit und gleichzeitig um den unaufhebbaren Unterschied von Subjekt und Objekt. Was im menschlichen Erkennen noch unterscheidend ist, das kann noch nicht jenes Erkennen darstellen, das das Erkennen Gottes ist. Gottes Erkennen, Gottes Wahrheit ist reine Identität Gottes mit sich selbst. Gott ist das vollkommene und unendliche Sein, das völlig in sich steht ("esse subsistens") und Sein durch sein Wesen ("esse per essentiam") ist. Diese so beschriebene Unübertrefflichkeit Gottes steht für sich allein, sie entzieht sich allem Werden, sie ist unveränderlich aus Vollkommenheit; Gott bedarf zu seiner Erkenntnis über sich selbst weder eines Anderen noch der Erkenntnis eines Anderen, Gottes Erkenntnis über sich selbst ist eine Art reinen Selbstvollzugs; Gottes Sein ist in sich stehende Identität; Gottes Wahrheit ist nichts anderes als die vollkommene Identität mit sich selbst.

Auch wenn es keine zufriedenstellende, keine total stimmige Definition von Wahrheit in der Geschichte von Theologie und Metaphysik zu geben scheint, reicht das Element der "Übereinstimmung" von Erkennendem und Erkanntem dennoch von der geistigen Erkenntnis des Menschen bis zur völlig übereinstimmenden Identität Gottes als Leitgedanke hinüber. An Gottes Erkennen und Sein wird die Wahrheit des Erkennens in ihrem Wesen als Identität offenkundig, wenngleich der Mensch sowohl in seinen Akten als auch in der Struktur seines Erkennens den Unterschied von Subjekt und Objekt mittragen muß. Jeder behauptete Vorrang, sei es des Subjekts oder auch des Objekts, führt in unseren gewählten Denksystemen zu einem Wirklichkeitsverlust, der darin liegt, daß das eine das andere durch das eine zu begründen sucht. Der Irrtum solcher Vorrangsysteme, der häufig eine Art Herrschaftssystem des Subjektiven oder Objektiven ist, kann eigentlich jene Identität Gottes nicht begreifen, die ganz mit sich selbst in Beziehung gekommen ist, alles umgreift und schon vor allem Geschaffenen besteht. Die Gotteswirklichkeit in solcher Identität kann weder irren noch Falsches kundtun; was das Wesen Gottes ausmacht, ist Gleichheit und Übereinstimmung mit sich selbst. Daher beschreibt das I. Vat. Konzil die Glaubwürdigkeit des offenbarenden Gottes als die Autorität desselben Gottes, "der weder täuschen noch getäuscht werden kann" (Denzinger - Hünermann 3008). Während es philosophische Systeme gibt, die Widerspruch und Gegensatz zum Fortschritt ihrer Ganzheit brauchen, ist für die metaphysische Theologie der Irrtum und Gegensatz zum Göttlichen nur die Gegebenheit des Endlichen, das sich nicht in die göttliche Identität einbringen kann. Abweichung und Irrtum liegen nicht auf der Ebene des unendlichen Gottes, der weder selbst von sich selbst abweichen oder irren kann und durch Abweichendes und Irriges in irgendeiner Weise in Frage gestellt werden kann.

Mit dem Leitgedanken der Übereinstimmung, der sowohl auf Gott als auch auf das menschliche Erkennen bezogen werden kann, verfügt die Theologie über ein Maß, das in einer gewissen Gleichheit, aber auch im Unterschied denkerisch eingesetzt werden kann. Über die Übereinstimmung in der Identität Gottes hinaus kann nichts Größeres gedacht werden. Es ist das Wesen Gottes selbst, das die Eigenschaften Gottes, die wir aus unserer menschlichen Erfahrung irgendwie in einer Ähnlichkeit mit Gott kennen, nur in der Unendlichkeit ihrer Vollkommenheit und Einfachheit als über Gott sagbar prüft und zuläßt. Die Einfachheit, die eine Zusammensetzung des Seienden teilweise oder ganz ausschließt, ist immer jeweils eine Weise der Unendlichkeit, auch in den Bedeutungen menschlicher Erfahrung.

Der einfache Begriff (Vollkommenheit), den wir dem Sein Gottes zusprechen, ist wegen seiner vollkommenen Identität mit sich selbst ohne Verneinung; dieser ist nur er selbst und als Unendlichkeit aus Einfachheit auch über Gott sagbar. So können wir nicht sagen, daß Gott ein materieller Körper ist, daß Gott räumlich oder zeitlich ausgedehnt ist. Wenngleich Gott die Ursache von Raum und Zeit und Körperwelt ist, kann Gott dennoch nicht zeitlich und räumlich genannt werden, denn Raum und Zeit sind nicht "einfach", sondern "zusammengesetzt" und würden in Gottes Wesen mit Raum und Zeit etwas hineintragen, was nicht "einfach" und daher ungöttlich ist. Einfache Vollkommenheit, wie z. B. Weisheit, Güte, Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe, Einzigkeit, Unendlichkeit sind von Gott und den Geschöpfen sagbar, allerdings in der verschiedenen Weise ihrer Verwirklichung, was die Metaphysik im Verhältnis "per essentiam" und "per participationem" ausdrückt. So ist Gott "bonus per essentiam", das Geschöpf hingegen "bonus/-a/-um per participationem". Die Verwirklichung der Vollkommenheit, die wir aus unserer Erfahrung auf Gott übertragen dürfen, besteht in der "Teilhabe" dessen, was Gott "per essentiam" in voller und einfacher Identität ist.

Hier liegt der Weg der Analogie in der Gotteserkenntnis; die Analogie ruht einerseits in der Verwirklichung der unsagbaren Vollkommenheiten in Ähnlichkeit zwischen Gott und Geschöpf; Ähnlichkeit besagt zugleich Gleichheit und Verschiedenheit in jenen Vollkommenheiten, die analog verwendet werden; andererseits sagt Analogieerkenntnis Gottes vom selben Namen die verschiedene Verwirklichung "per essentiam - per participationem". Was in der analogen Erkenntnis Gottes sich zeigt, ist ein Minimum von Gemeinsamkeit in den über Gott und die Dinge gleichermaßen verwendeten Namen. Dieses Minimum sollte in der Theologie nicht dazu verleiten, den unendlichen Unterschied zwischen Geschöpf und Gott zu vernachlässigen, um die Last des Analogen nicht ertragen zu müssen; bis in die letzte Bedeutung hinein ist das Analoge weder eindeutig noch vieldeutig (äquivok).

Wenngleich in der Glaubenslehre der Kirche über Gott auch der menschlichen Vernunft eine Erkenntnisfähigkeit zugestanden wird, gilt dennoch der Satz des IV. Laterankonzils (1215): "... zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, daß nicht zwischen ihnen eine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre" (Denzinger - Hünermann 806; Neuner - Roos 280). Alle Begriffe der Vernunft tragen bei allem Suchen nach Ähnlichkeit dennoch das Stigma der noch größeren Unähnlichkeit zu Gott. Nichts, was die Vernunft erkennt, kann in Ähnlichkeit die Unähnlichkeit überwinden; alle Wahrheit aus analoger Erkenntnis steht immer wieder in einer übertreffenden Verneinung dessen, was die Vernunft über Gott erkennend aussagt. Auch die größere Unähnlichkeit gegenüber der Ähnlichkeit bedeutet keinen Irrtum des Erkennens, sondern vielmehr die Verschiebung der Wahrheitsbedingungen im Fall der analogen Erkenntnis Gottes aus geschöpflichen Gegebenheiten; auch eine "via negationis" kann ein Weg in Wahrheit sein, der eben den unendlichen Abstand zwischen Gott und dem erkennenden Geschöpf berücksichtigt.

Agnostische und atheistische Denksysteme bilden in ihrer Konsequenz einen Widerspruch gegen eine wahre Erkenntnis des transzendenten Gottes, indem sie die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft auf das Immanente begrenzen oder ein Dasein Gottes überhaupt verneinen. Jede geschichtliche Gestalt von Philosophie und Theologie bringt als unterscheidende Eigenart ihrer Systeme auch eine jeweils andere Begrifflichkeit von Wahrheit mit sich; in allen Schulen des Denkens wird die Frage "Was ist Wahrheit?" ständig gestellt und beantwortet; so radikal auch die Frage nach der Wahrheit gestellt sein mag, so sehr hat die Wahrheit ihre Vorgaben, in denen sie entdeckt werden muß. Daß Wahrheit mit jeder Philosophie ihre verschiedene Begrifflichkeit hat, relativiert nicht die Wahrheit, sondern zeigt die Notwendigkeit auf, in der Wahrheit selbst wieder die Wahrheit sein zu lassen.

Die Animosität, heute Wahrheit zu bekämpfen und Wahrheit nicht gelten zu lassen, könnte den Eindruck erwecken, man könnte disputieren und diskutieren, ohne irgendeine Wahrheit zu brauchen, denn es sei ohnedies alles subjektiv, relativ und ein Einzelfall ohne Ansruch auf Allgemeingültigkeit. Die Wahrheitsflucht von heute hat ihre kulturelle Tarnung: Wer auf die Wahrheit pocht und sie ungebrochen verkündigt, wird als anmaßend denunziert; es gilt in der Kirche zunehmend als besonders fromm, zugunsten von Dialog und Toleranz auf den Wahrheitsanspruch der Glaubenslehre zu verzichten und sich als "Suchender" zu deklarieren. Auch im banalen Lebensgefühl des Menschen wird der Leitsatz ständig verbreitet, daß Sätze nichts Höheres ausdrücken können, was dann Ethik oder Glaubenssätze beinhalten würde; wenn dies dennoch geschieht, dann ist eben nichts gewiß. Die Abstinenz von der Wahrheit in der Welt des Menschen geht mit der Behauptung einher: "Wie die Welt ist, ist für das Höhere gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt" (Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 6.432).

Eine Welt, die im Zweifel an der Wahrheit um sich kreist, benützt in ihrer Tautologie diese Vorurteile: "Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. Was es nicht-zufällig macht, kann nicht in der Welt liegen" (6.41). Dieses völlige Eintauchen der Welt in das Zufällige macht alle Sätze gleichwertig (6.4), sodaß kein Satz etwas Höheres ausdrücken kann. Wahrheit hingegen ist in ihrem Wesen nicht zufällig und bedeutet in ihrer Fähigkeit zum Allgemeingültigen ein Minimum an Notwendigem, das das Zufällige wesentlich übertrifft. In mancher kritischen Philosophie wird die Frage bezüglich der Wahrheit nicht erst gestellt, wenn die Momente des Erkennens: Subjekt, Objekt, Erkenntnisakt in der zustandegekommenen Übereinstimmung geprüft werden; eine Ausgrenzung von Wahrheit braucht nicht unbedingt eine kritische Frage, in der Erkennender, Erkanntes und Übereinstimmung beider wie in einem "circulus vitiosus" zwar einen "regressus in infinitum" bilden, aber der Wahrheit der Erkenntnis in ihrer Identität nicht gewiß sind. Auch wenn die kritische Frage bezüglich der Wahrheit des intellektuellen Erkennens wegen ihrer "schlechten Unendlichkeit" eines "regressus in infinitum" die Wahrheit als gegeben und richtig aus Mangel einer reinen Identität nicht erweist, gibt es auch andere Vernunftwege, die sich der Wahrheit und unserer Gewißheit davon versperren: Wer z.B. die Wirklichkeit der Welt als rein zufällig und einzeln - ohne jede Anlage zur Verallgemeinerung - betrachtet, definiert auf diese Weise die Wahrheit aus der erkennbaren Wirklichkeit weg; denn, wo alles nur zufällig und vereinzelt ist, kann es Erkenntniswahrheit nicht geben: weder die allgemeingültige, noch die transzendierende, noch die zwischen den Erkennenden kommunizierende.

Es ist nicht die Absicht dieses Beitrags, die Inhalte einiger vernünftig getätigter Erkenntnisakte als Wahrheitsfall zu besprechen. Die ideale Antwort über die Wahrheit wäre die Nennung jenes Wesens der Wahrheit, das Wahrheit ohne Subjekt-Objekt-Spaltung, ohne zeitliche oder kausale Abfolge des Sachverhalts, ohne Bedingung oder Bedingtes, ohne Irrtumsmöglichkeit und in größtmöglicher Wirklichkeit mit absoluter Einfacheit beschreibt, setzt und einsichtig sein läßt. Wittgenstein, der unserem Erkennen keine "höheren Sätze" als Wahrheit darüber, wie die Welt ist, zugesteht, erahnt dennoch für unser Denken das Mystische: "Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist" (6.44). "Die Anschauung der Welt sub specie aeternitatis ist ihre Anschauung als begrenztes-Ganzes. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische" (6.45).

Sofern nicht die Absicht besteht, die agnostische oder atheistische Option ausschließend zu vertreten, wird man sagen können, daß die Wahrheitsfrage ihre Tiefe nicht in der Kritik des gegenständlichen Erkennens erreicht; wer einen erkenntnishaften Weg zu Gott für vernunftwürdig hält und wer bei aller Unangemessenheit menschlicher Erkenntnis dennoch eine Erkenntnis der Existenz Gottes nicht ausschließt, der wird sich von der Allnotwendigkeit von Wahrheit in allem Wirklichen überzeugen lassen. Es wird nicht einfach entscheidend sein, was wir von Gott erkennen; ein wesentlich besseres Ergebnis könnte die Einsicht sein, daß nichts Wirkliches wirklich ist, wenn es nicht in der Wahrheit steht. Damit wäre Wahrheit nicht nur ein Gelten konkreten Inhalts in Sein und Nicht-Sein, sondern auch etwas, was das Ganze der Wirklichkeit umfängt und dennoch Bestehen in der Wirklichkeit und Wahrheit ist, wenngleich die Subjekt-Objekt-Erkenntnis nicht ausschließlich der Fall von Wahrheit ist. Der Begriff von Übereinstimmung wird sich nicht allein auf das Subjekt-Objekt-Erkennen beziehen, sondern als Weise der Unendlichkeit ein Weg der Wahrheit sein.

Wer Offenbarung, Glaubenslehre, Theologie und die wahre Kirche Christi mit den Mitteln der erkennenden und urteilenden Vernunft darstellen will, braucht die Wahrheit der objektiv erkennenden Vernunft, der vernünftigen Schlußfolgerungen und jener Weise von Identität, die Einfachheit, Unendlichkeit und Bestehen aus eigener Vollkommenheit ist. Alle diese Schritte kann die einer Metaphysik fähige Vernunft gehen, um Wahres in den Dingen zu erkennen, richtig zu folgern und schließlich die Vollendung der Wahrheit in Gott zu wissen.

Es gehört zur Glaubenslehre der Kirche und zur Wahrheit über den Menschen, daß die menschliche Vernunft auf dem natürlichen Weg Gott erkennen kann; so lehrt das I. Vatikanische Konzil: "Gott, aller Dinge Grund und Ziel, kann mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen mit Sicherheit erkannt werden" (Denzinger - Hünermann 3004; Neuner - Roos 27). Es ist eine ständige Versuchung der Theologie, die Folgen der Erbsündigkeit des Menschen so zu bewerten, daß man das Natürliche im Menschen - auch die Vernunft - für völlig zerstört und keiner wahren Erkenntnis Gottes mehr für fähig hält. Diese dogmatische Aussage des I. Vatikanischen Konzils widerspricht einem völlig pessimistischen Menschenbild, das Folge der Erbsünde wäre; vielmehr ist der Vernunft trotz der Erbsünde genug Licht und Kraft geblieben, daß sie uns mit Sicherheit zur Erkenntnis des Daseins Gottes und zur Offenbarung durch Christus führen kann.

Es ist eine Wahrheit des Glaubens, daß unsere Vernunft auch bezüglich der Erkenntnis Gottes wahrheitsfähig ist und ein gewisses Minimum natürlicher Gotteserkenntnis erreichen kann. Es ist für die Glaubenslehre der Kirche kein Problem, daß mit einem Glaubenssatz die natürliche Fähigkeit des Menschen festgestellt und theologisch legitimiert wird. Vor allem in der Auseinandersetzung mit den rationalistischen Philosophien des 19. Jahrhunderts mußte die Kirche zu Fragen des Verhältnisses von Glaube und Vernunft und dem damit verbundenen Wahrheitsanspruch ihre Glaubenslehre entfalten: Zwischen Glauben und Vernunft kann es nie einen wirklichen Widerspruch geben, weil derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingibt, der Menschenseele auch das Licht der Vernunft gegeben hat. Gott aber kann sich selbst nicht verleugnen, und die Wahrheit kann der Wahrheit nicht widersprechen. Der bloße Schein eines solchen Widerspruchs stammt meist daher, daß die Glaubenswahrheiten nicht im Sinne der Kirche aufgefaßt oder dargelegt werden, oder daß Tagesmeinungen als Sätze der Vernunft ausgegeben werden. "Jede Behauptung, die der Wahrheit des erleuchteten Glaubens widerspricht, erklären wir für falsch" (V. Laterankonzil, vom I. Vatikanischen Konzil zitiert: Denzinger - Hünermann 3017; Neuner - Roos 40).

Glaube und Vernunft haben ihren gemeinsamen Ursprung in Gott. Der Ursprung aus dem einfachen Sein und Wesen Gottes garantiert die Widerspruchslosigkeit von Glaube und Vernunft in ihrem Verhältnis, in ihren Maßstäben und in ihren Akten: Derselbe Mensch drückt sich in Glauben und Vernunft oft sehr verschieden aus, denn es gibt die Sprache des Religiösen und auch jene der objektivierenden Vernunft. Dennoch gibt es ein Gefüge, das sich nicht nur auf denselben Menschen, der glaubt und erkennt, bezieht; Glaube und Vernunft bestehen in der Einfachheit Gottes, die ewiger Ursprung ist und für beide Größen die Wahrheit garantiert, weil die Wahrheit in jedem Fall eine Weise der Einfachheit (Selbigkeit) Gottes ist.

Die Glaubenslehre der Kirche beurteilt die Erkenntnisfähigkeit des Menschen bezüglich der Mysterien des Glaubens so: Zweifach ist die Ordnung der religiösen Erkenntnis, unterschieden in der Fähigkit und verschieden im Gegenstand. Denn wir erkennen einerseits mit der natürlichen Vernunft, andererseits mit übernatürlichem Glauben; verschieden ist der Gegenstand, der außer dem, was die natürliche Vernunft erfassen kann, in Gott verborgene Geheimnisse umfasst, die nie in den Bereich des menschlichen Erkennens kämen, wenn sie uns nicht von Gott geoffenbart wären. Die Theologie nennt diese Geheimnisse in einem anderen Sinn Mysterien als noch nicht erkannte Gegebenheiten, die irgendwann mit Mühe erforscht und begriffen werden können. Es liegt vielmehr in den göttlichen Geheimnissen, daß sie ihrer Natur nach den geschaffenen Verstand übertreffen, so daß auch nicht die übernatürliche Offenbarung noch der Glaube das Dunkel und den Schleier des Glaubens von diesen Geheimnissen entfernen können (vgl. I. Vatikanisches Konzil: Denzinger - Hünermann 3015 f; Neuner - Roos 38 f). Die Geheimnisse des Glaubens sind nicht die Folge menschlicher Fehlbarkeit, sondern die Wirklichkeit der unendlichen Größe Gottes, die auf keinem Weg diskursiv erschlossen, deduktiv abgeleitet, intuitiv eingesehen oder theologisch ergründet werden können. Die Existenz der Mysterien, die in Glaubenssätzen Mitteilungen der übernatürlichen Offenbarung, der Selbstmitteilung Gottes, sind, ist nur gegeben, weil sie von Gott selbst geoffenbart sind. Es gibt keine Notwendigkeit der menschlichen Vernunft, die aus sich zu den Mysterien führt, wenngleich auch manche Philosophie mit großem Ernst versucht hat z.B. das Geheimnis der Dreifaltigkeit als vernünftige Notwendigkeit der Weltgeschichte des Geistes darzustellen. Niemals wird die menschliche Vernunft die Wahrheiten des Glaubens nach Art der Wahrheiten, die den der Vernunft eigenen Erkenntnisgegenstand ausmachen, völlig durchschauen können.

Die Metaphysik und auch die Theologie ist sich der Unangemessenheit der Gotteserkenntnis bewußt. Weil eben die Frage: "Wie wahr ist unsere Gotteserkenntnis?" das ständig Bewegende ist, flüchtet das Denken der Kirche nicht in das Beliebige, Gleichgültige, Anthroposophe, unbedachte Spontane, aktuell Subjektive, um eine modische Gottesrede zu veranstalten. Der Ernst der Wahrheit und auch die Wahrheit über die Fehlbarkeit und Grenzen der Vernunft hat zur Methode der ständig ineinander verschränkten "via affirmationis", "via negationis" und "via supereminentiae" geführt, um Wahrheit über Gott auszusagen, diese als unangemessen zu verneinen und über Gott in übersteigender Vollkommenheit wiederum festzuhalten. Über diesen Dreischritt, der eigentlich ein einziges Urteil des erkennenden Menschen ist, unterscheidet die scholastische Theologie auch noch in einer anderen Perspektive über die Begriffe der Gotteserkenntnis; mit der Unterscheidung "idquod" und "modusquo" wird im "idquod" das auf Gott Übertragbare festgehalten, während der "modusquo" die Unsagbarkeit Gottes dem unendlichen "idquod" entgegensteht. Solche Momente des dargestellten Dreischritts und der "idquod - modusquo" machen das System der menschlichen Gotteserkenntnis aus, das wir das analoge nennen.

Das Besondere des analogen Weges liegt darin, daß die erreichten Begriffe weder eindeutig noch vieldeutig sind; der analoge Begriff, ausgehend von der menschlichen Erkenntnis und über Gott sagbar, existiert als solcher nicht in den Dingen und muß in einer Mitte gehalten werden, die kein bloßes Ding ist, sondern ein Geschehen, dessen nur der Geist des Menschen fähig ist. Es sind nicht zwei Begriffe, die den analogen Begriff ausmachen; es ist ein Begriff, dessen Einheit über den einzelnen Dingen sagbar liegt. In der analogen Gotteserkenntnis gelingen nur Begriffe, die Ausdruck einfacher Vollkommenheiten sind, die letztlich mit dem einfachen Wesen Gottes eins sind; die einfachen Vollkommenheiten Gottes sind selbst in ihrer Verschiedenheit die Weisen der Einfachheit Gottes. Für das Gottesdenken der Theologie sind die im Subjekt-Objekt-Erkennen entstandenen Begriffe nicht die höchste und letzte Wahrheit. Denn alles, was sich im Erkennen dem Einfachen nähert, gewinnt über die Zusammensetzung Subjekt-Objekt hinaus an Gewißheit von Wahrheit, auch wenn dabei die kritische Frage nach der Wahrheit und andere Instrumentarien der Prüfung nicht angewendet werden. Für die Theologie gibt es wohl eine gewisse Hinführung durch die Vernunft zum Glauben; in diesem Sinn urteilt das I. Vatikanische Konzil: "Glaube und Vernunft widersprechen einander also nie, vielmehr helfen sie einander gegenseitig. Denn die richtig gebrauchte Vernunft beweist die Grundlage des Glaubens und bildet, vom Glauben erleuchtet, die Wissenschaft von den göttlichen Dingen aus, während der Glaube die Vernunft vom Irrtum befreit, sie vor ihm schützt und ihr vielfache Erkenntnis mitteilt" (Denzinger - Hünermann 3019; Neuner - Roos 42). Für die katholische Theologie hätte ein Reden von Glauben und von Vernunft keinen Sinn, wenn es dabei nicht wesentlich und ausnahmslos um die Wahrheit des Glaubens, der Offenbarung, der Vernunft und der Glaubenslehre ginge. Es geht immer um die Übereinstimmung des Geoffenbarten und Gesagten mit einer Wirklichkeit; diese Wirklichkeit ist in ihrem Letzten und Höchsten das einfache Sein und Wesen Gottes, worin alles, was seinen Ursprung aus Gott hat, unveränderliche, unbedingte und zeitlose Wahrheit aus sich, in sich und für sich ist. Die Theologie sucht eine Wahrheitsbegründung nicht nur im endlichen Erkennen der Vernunft, sondern noch viel mehr im Ursprung der Offenbarung und der Gnadengabe des Glaubens aus Gott. Der Ursprung aus Gott, der die unfehlbare Wahrheit in der Einfachheit seines Wesens und seiner Identität ist, ist eine Gewähr der Wahrheit, die alle endlichen und geschichtlichen Konkretionen von Erkenntnis übertrifft. Was aus Gott kommt, kann nichts als Wahrheit sein und nur als Wahrheit aufgenommen und bezeugt werden.


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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 18.10.1997.

 

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