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Diözesanbischof Dr. Kurt Krenn von St. Pölten

 

Hirtenbrief zur Fastenzeit 1993

Liebe Gläubige!

1. Die Verkündiger des Wortes Gottes haben den Gläubigen vor allem darzulegen, was zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen zu glauben und zu tun ist. Dieser Pflicht möchte der Hirtenbrief zur Fastenzeit 1993 entsprechen.

2. Schon beim Propheten Joël heißt der Spruch des Herrn: "Kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, Weinen und Klagen. Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider, und kehrt um zum Herrn, eurem Gott!" (2,12 f.). Johannes der Täufer, der auf das Kommen Jesu vorbereitete, sagte den Menschen, die auf den Messias warteten: "Bringt Früchte hervor, die eure Umkehr zeigen" (Lk 3,8). Und Jesus selbst verkündigt: "Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe" (Mt 4,17).

3. Die Sünde des Menschen besteht darin, daß der Mensch Gott vergißt und vernachlässigt und sich einem Geschaffenen zuwendet, das er Gott vorzieht. Wer hingegen sich zu Gott bekehrt, muß seine Liebe ordnen; er verläßt seine ungeordnete Neigung zum Geschaffenen und sucht in der Liebe den Vorrang für Gott. Wenn wir uns im Fasten von der Vorliebe für geschaffene Dinge lösen, tun wir einen Schritt der Umkehr auf Gott hin. Fasten ist also für den gläubigen Christen nicht Selbstzweck, sondern das Loslassen dessen, was uns an der Liebe zu Gott hindert. Und Bekehrung von unseren Sünden ist möglich, weil Gott uns schon "vorausliebt", so daß wir der Gnade Gottes nur antworten müssen, wenn wir wie der verlorene Sohn uns entschließen: "Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt" (Lk 15,18).

4. Im vergangenen Jahr habe ich in einem Hirtenwort zur Fastenzeit die Gläubigen an eine gewissenhafte, würdige und persönliche Osterbeichte erinnert. Niemand möge die Gnadenstunde einer guten Osterbeichte in diesem Jahr versäumen. Schiebt nicht auf, was längst nottut. Ladet auch jene ein, die seit Jahren der Versöhnung mit Gott durch die Beichte aus dem Weg gegangen sind. Die Priester bitte ich inständig, daß sie oft und regelmäßig die Gläubigen zur Beichte aufrufen und dafür ihren priesterlichen Dienst immer wieder anbieten. Ich bitte an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen (vgl. 2 Kor 5,20).

5. Es ist ein schlimmes Vorurteil, das heute die Menschen hindert, Sünde zu erkennen und Schuld einzugestehen. Die Menschen betäuben heute nicht selten die anklagende Stimme ihres Gewissens; sie suchen mit Vorliebe Schuld und Versagen bei ihrer Umwelt, in der Gesellschaft und in Strukturen. Der Gesellschafts- und Strukturenkritiker klagt heute vieles an, nur nicht sich selbst. Dennoch sind es immer Menschen, die Unrecht und Ungerechtigkeit, Krieg und Elend, Unmenschlichkeit und Gottlosigkeit in freien persönlichen Entscheidungen verschulden. So kommt es heute zu dem, daß man wohl die Welt verändern, nicht aber sich im Herzen selbst bekehren will. Das beklagte Elend in der Welt zeigt deutlich, daß niemand sich selbst, sondern nur andere anklagen will. Wissende und Unwissende spielen sich heute als die Schiedsrichter der Welt auf und klagen auch nicht selten die Kirche der Rückständigkeit oder Unmenschlichkeit an, weil sie von der Kirche wohl in ihren Sünden bestätigt, nicht aber bekehrt werden möchten.

6. Das Sünden- und Schuldbewußtsein des heutigen Menschen ist längst die abgrundtiefe Gottesfrage geworden: Für wen Gott nicht wirklich ist, für den wird es das selbstkritische Gewissensurteil nicht geben, daß er wegen seiner Sünden vor Gott schuldig ist. Was eigentlich Sünde vor Gott ist, erscheint heute vielen Menschen nur mehr als ein soziales, politisches, psychologisches oder ökologisches Problem. Wo aber Gott und seine Gebote keine Rolle mehr spielen, dort ist das Ende der aufgestauten unlösbaren Weltprobleme die Gewalt und nicht mehr die Liebe und Versöhnung. Wollen wir also jenen Frieden finden und bewahren, den die Welt nicht geben kann, müssen wir den lebendigen und wirklichen Gott wiederfinden.

Alle Fragen, die Kirche, Welt und das Dasein des Menschen betreffen, können ohne Gott nicht beantwortet werden: Ist Gott nicht wirklich und anwesend, können wir nicht begreifen, was die Kirche ist; ohne Gott wäre auch Jesus Christus nicht der Sohn Gottes, sondern ein ärgerlicher Prophet; ohne Gott wären die Sakramente nur äußerliche Worte und Gesten, die nichts im Menschen verändern; ohne Gott wäre die Heilige Schrift nur ein interessanter Text, nicht aber das Wort Gottes; ohne Gott wäre unser Glaube nur die Projektion unserer Sehnsucht; ohne Gott wäre der Mensch nicht Person mit Würde, Einmaligkeit und Unsterblichkeit der Seele, sondern nur ein Lebewesen wie ein Tier; ohne Gott wäre das Gewissen des Menschen nicht die Stimme zum Tun des Guten und zum Meiden des Bösen, sondern Selbstherrlichkeit und Selbstbestätigung.

7. Im Anfang schuf Gott den Menschen als Gottes Bild und Gleichnis; die Größe des Menschen bestand darin, wie Gott zu sein. Der Böse und die Sünde haben den Menschen zur Forderung verführt, Gott müsse wie der Mensch sein.

Überall wo sich heute Unrecht, Unordnung, Krieg, Gewalt, Maßlosigkeit, Verantwortungslosigkeit, Lüge, Haß, Zerstörung, Perversität, Sünde und Egoismus zeigen, haben Menschen sich ungehorsam gegen Gott gestellt. Der Mensch versucht sich manchmal in Torheit und sagt, daß es keinen Gott gibt; manchmal auch bekämpft der Mensch den Anspruch der Wahrheit und des Willens Gottes, indem er Gott vorzuschreiben versucht, wie jener Gott sein müsse, den er akzeptieren will.

Liebe Brüder und Schwestern!

Glaubt nicht denen, die heute behaupten, daß Gott nichts anderes als das Wunschbild des Menschen sein dürfe. Schon Jesaja mahnt uns: "Wehe euch, die ihr alles verdreht. Ist denn der Ton so viel wie der Töpfer? Sagt denn das Werk von dem, der es herstellt: Er hat mich nicht gemacht? Oder sagt der Ton von dem Töpfer: Er versteht nichts?" (29,16). Versteht uns Gott nicht, so daß wir Gott den Gehorsam versagen müssen? Versteht uns Gott vielleicht nicht, so daß der Mensch seine Zuflucht zur Sünde suchen müßte, um Mensch zu sein?

Erkennt die Zeichen der Zeit! Gott hat sich nicht von der Welt und vom Menschen zurückgezogen, um uns allein zu lassen in Ratlosigkeit und Ziellosigkeit. Wir sind nicht allein und einsam gelassen; denn Gott will zu uns reden, Gott will von uns geliebt sein, Gott will unter uns sein, Gott will in seinem Sohn Jesus Christus ein Mensch unter Menschen sein. Zu allen Zeiten war der Mensch versucht zur Sünde. Die kalte Vernunft, die sich nicht in Frage stellt, sieht nichts anderes als die Dinge und den Menschen und behauptet: Es gibt keinen Gott, es gibt nur mich; es gibt nur das, was ich greifen kann; es gibt nur das, was mir nützt.

8. Viele Probleme unserer Zeit sind eigentlich der Hinweis darauf, daß wir Gott vergessen haben, daß uns Gott nicht interessiert, daß wir Gott nicht erkennen und nichts von ihm wissen. Die dunkelsten und verworrensten Fragen des Menschen erhalten ihr Licht, wenn wir sie vor Gott stellen. Wer über Gott wahre Gewißheit hat, der weiß in seinem Sterben, daß er nicht untergeht, sondern in der Treue Gottes als geliebtes Kind weiterlebt. Für wen Gott wirklich ist, der wird nicht mit der Last der Gebote Gottes hadern, sondern mit brennendem Eifer fragen, wie er Gottes Willen täglich besser erfüllen kann. Wer an Gott glaubt, hat allen Grund, in guten wie in bösen Tagen dem Ehegatten und seiner Familie treu zu sein. Wer an Gott glaubt, wird trotz seiner Sünden seine Würde als Gotteskind in der Barmherzigkeit Gottes wiederfinden.

 

Teil 2

9. Sehr vieles, was heute den Geist, die Urteile und Gefühle bewegt, ist im letzten eine Auseinandersetzung über die Wirklichkeit Gottes. In weiten Teilen Europas wurde der Marxismus - Leninismus als überholt aufgegeben, doch ist der Atheismus im Osten und Westen Europas dennoch heute die große Versuchung, die die Kultur, den Umgang der Menschen miteinander, sittliche Maßstäbe, Würde und Rechte der Menschen und zuweilen auch den Frieden gefährdet. In welchem Gewand der Atheismus auch auftritt, er hat immer das Ziel, alle großen Fragen ohne Gott zu beantworten und für alles Lösungen ohne Gott anzubieten.

In den geschichtlichen Entscheidungen Europas wird die Gottesfrage ständig eine große Rolle spielen; daher kann die Kirche wegen ihres Evangelisierungsauftrages für Europa den Gläubigen es nicht ersparen, an die Bedeutung der Gottesfrage zu erinnern. Es ist die Gottesfrage, die vor allem die Laienchristen zur politischen, kulturellen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Reflexion über den Zustand unserer Welt bewegen sollte.

10. Ein zeitkritischer Bischof stellte kürzlich fest, daß es im Leben unserer Kirche vor allem an den wahrhaft großen Fragen fehlt, die aufrütteln, die das Gewissen schärfen und das Leben im Glauben vorantreiben. Dieser Bischof hatte nicht unrecht: Geradezu lächerliche und kleinliche Fragen werden zu großen Themen erhoben; für manche ist die Kirche nur der Marktplatz für unglaubwürdige Deklamationen, für maßlosen persönlichen Ehrgeiz, für schlimme Intrigen und für törichten Selbstruhm. Es ist für uns Menschen allemal leichter, Kuriositäten und kirchenpolitische Plaudereien zu bevorzugen, als über Gott nachzudenken, über Gott begreifbar zu sprechen und zu Gott zu beten.

11. Gott schuf den Menschen, um sich selbst im Bild und Gleichnis des Menschen wiederzuerkennen, den Menschen zu lieben und sich durch die Liebenswürdigkeit des Menschen zu ehren. Tun wir den ersten Schritt zur Anbetung Gottes; das heißt: Lassen wir Gott so groß, so gut, so wahr und so heilig sein, wie er ist und wie er sich in unserem Glauben offenbart! Der Mensch ist immer wieder versucht, sich seinen eigenen Gott zu machen; die Menschenfreundlichkeit Gottes wird mißverstanden, wenn der Mensch bestimmen will, wer Gott ist und was Gott wollen darf.

Gott jedoch führt den Weg der Heilsgeschichte über das Kreuz Christi; unser Zeitgeist hingegen will nur einen heiteren, harmonisierenden und gleichgültigen Gott gestatten, sodaß Kreuz und Leiden, Opfer und Entsagung als Torheit und Ärgernis gelten und dem gekreuzigten Sohn Gottes die Gefolgschaft verweigert wird. Die Anbetung Gottes ist wahre Anbetung, wenn wir nicht nur den Schöpfer der Welt, sondern auch den gekreuzigten Erlöser als wahren Gott anbeten und hören.

12. Viele Christen, vor allem auch junge Christen, entdecken heute wieder Gebet und Anbetung. Mögen jeden Tag mehr Gläubige diesen Gnadenweg des Betens beginnen. Und in dieser Begegnung mit dem wahren Gott wird zurückkehren, was nicht selten im Leben der Kirche verdrängt wurde: die Ehrfurcht. Die Ehrfurcht des Menschen vor Gott hat viele Formen und Weisen. Die Ehrfurcht durchzieht alle Bereiche des menschlichen Daseins und humaner Kulturen und bedeutet immer eine Weise geläuterter und selbstloser Liebe.

Es ist anbetende Ehrfurcht, wenn wir das Eucharistische Opfer Christi gewissenhaft nach der liturgischen Ordnung der Kirche feiern. Das II. Vatikanische Konzil nennt die liturgische Feier das Werk Christi, des Priesters und der Kirche und damit eine heilige Handlung, deren Wirksamkeit kein anderes Tun der Kirche an Rang und Maß erreicht (vgl. SC 7). Wir wollen Gott nicht die Ehrfurcht verweigern, indem wir die heilige Liturgie zu einer Spielwiese für Beliebigkeit und Banalität werden lassen.

13. Zur notwendigen Ehrfurcht vor Gott gehört, daß jeder Gläubige versöhnt mit Gott im Stand der Gnade den Leib des Herrn empfängt; wer den Leib des Herrn unwürdig empfängt, versperrt sich selbst der Gnade und erleidet das Gericht des Herrn für jenen, der ohne Hochzeitsgewand zum göttlichen Gastmahl hinzutritt (vgl. Mt 22,11-14). Es ist heute besonders zu betonen, daß die Gläubigen die Vergebung ihrer schweren Sünden in einer persönlichen Beichte suchen müssen, ehe sie kommunizieren.

Auch das stille Gebet und Formen der persönlichen Anbetung und Ehrfurcht sollen den Empfang des Leibes Christi begleiten. In manchen Ländern, auch in Österreich, gestattet die Kirche sowohl die Mund- als auch die Handkommunion. Beide Weisen des Empfanges sind möglicher Ausdruck von Ehrfurcht. Eine Art Glaubenskrieg in dieser Frage liegt nicht im Sinne der Kirche. Dennoch mögen alle in vornehmer Rücksicht auf die Frömmigkeit ihrer Brüder und Schwestern das Wort des hl. Paulus bedenken: "Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Keiner suche seinen eigenen Vorteil, sondern den des anderen" (1 Kor 10,23 f.). In kluger Weise sollen die Seelsorger die Kinder zunächst zur Mundkommunion anleiten und sie ehrfürchtiges liturgisches Verhalten lehren.

14. Es war die besondere Sendung Jesu Christi, die Kunde vom göttlichen Vater zu den Menschen und in die Welt zu bringen. Jesus deutet sein Menschsein darin, daß es seine Speise ist, dem Willen dessen zu gehorchen, der ihn gesandt hat (vgl. Joh 4,34). Jesus hat es gewagt, den unsichtbaren Gott und Vater zu verkünden, um so die Welt zu verändern. Der Gottessohn Jesus Christus wurde für uns der Gotteszeuge. Aber er, der es wagte, der Gotteszeuge zu sein, wurde verleumdet als Fresser und Säufer, als Freund der Zöllner und Sünder (vgl. Mt 11,19), ihm widerfuhren Widerspruch und Ablehnung und schließlich der Tod am Kreuz.

Jesus setzte nicht auf Macht und Reichtum, nicht auf mächtige Freunde, nicht auf Anpassung, nicht auf den Applaus der Massen und nicht auf die Gnädigkeit der Gescheiten. Er setzte nur auf Gott, auch dann, als er in Todesangst am Ölberg beten mußte: Vater, nicht mein, sondern dein Wille geschehe (vgl. Lk 22,42). Gott genügte, das Geheimnis des Vaters genügte für Jesus, um die Menschen zu erlösen und die Welt zu verändern; das Geheimnis des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes genügt, um in der Kirche das Volk Gottes zu vereinen für alle Zeiten.

15. Auch heute haben wir für die Rettung einer gottfernen Welt nur die Wahrheit von Gott, die Jesus uns kundtat, die die Kirche durch alle Zeiten unfehlbar bewahrt und verkündigt. Wenn wir vom Glauben an Gott ergriffen sind, brauchen wir nichts und niemanden zu fürchten; der Sieg, der die Welt besiegt hat, ist unser Glaube (vgl. 1 Joh 5,4).

Auch für uns sei Gott der erste und letzte Gedanke, die erste Liebe und die letzte Hoffnung, unsere Weisheit und Tatkraft. Gott sei für uns der Grund, alle Mauern der Endlichkeit zu überspringen und die Enge unseres Ichs zu öffnen, so daß wir im Psalm jubeln können: "Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen ... Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muß ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil: denn du bist bei mir ..." (Ps 23,1.3.4).

16. Eine gnadenreiche Buß- und Fastenzeit und ein Osterfest voll heiliger Freude wünscht allen Brüdern und Schwestern im Glauben

+ Kurt Krenn

Diözesanbischof  

St. Pölten, Aschermittwoch 1993

(Teil 1 bzw. Teil 2 am 1. bzw. 2. Fastensonntag bei allen Gottesdiensten zu verlesen)


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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 28.11.1997.

 

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