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Diözesanbischof Dr. Kurt Krenn von St. Pölten

 

Kirche in Österreich
Ein Vortrag im Juni 1993

Wer sich heute für die katholische Kirche in Österreich interessiert, folgt einem "Zeichen der Zeit". Sollte es Zeiten gegeben haben, in denen die Kirche unauffällig wirkte, ist die Kirche heute ein auffälliger Faktor im öffentlichen Bewußtsein; denn über die Kirche wird wieder gesprochen, die Kirche wird viel kritisiert und wenig gelobt, die Vorgänge in der Kirche interessieren auch häufig jene, die nicht zur Kirche gehören, und schließlich gibt es heute eine Unzahl von Berichten, Kommentaren und Urteilen in Fernsehen und Rundfunk, in Zeitungen und Magazinen, in literarischen und künstlerischen Produktionen, die eine Spannweite von objektiver und gerechter Auseinandersetzung bis hin zu Religionsverhöhnung und Kulturkampf aufweisen.

Es gab zu allen Zeiten Wertschätzung und Gegnerschaft für die Kirche und ihre Lehre des Glaubens und der christlichen Sittlichkeit; dennoch ist heute manches anders: Stellte man sich früher gleichsam gegen das Ganze der Kirche und beließ dabei der Kirche ihre Identität, wird heute fast mit jeder Auseinandersetzung ein Mißverständnis von Kirche mittransportiert. Worin besteht dieses Mißverständnis? Die Kirche versteht sich zu allen Zeiten als jene heilbringende Gemeinschaft, die von Christus gestiftet und bevollmächtigt ist und sich daher als ein Werk Gottes verstehen muß. Heute hingegen gilt in der öffentlichen Auseinandersetzung als Kirche nur das, was die Summe der kirchenpolitischen Vorgänge und kulturellen Auseinandersetzungen ist. Man will der Kirche nicht das Selbstverständnis zugestehen, daß sie in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit ist; so beschreibt das II. Vatikanische Konzil das Wesen und die Aufgabe der Kirche (vgl. LG 1).

Heute hingegen wird die Kirche wie ein politisches Ding dargestellt, das sich dem Fortschritt entgegenstellt, das die Regeln der Humanität ignoriert, das der demokratischen Mehrheit nicht unbedingt sich fügt, das über seine Werte, Normen und Vorrangigkeiten nicht den Konsens der Betroffenen als Begründung gelten läßt, das im Verlauf seiner langen Geschichte viele schlimme Taten begangen haben soll, das für Schuld und Missetaten verantwortlich gemacht wird, weil es im Gegensatz zu den vielen politischen Mächten durch zwei Jahrtausende seine Identität bewahrt hat. Der Kirche widerfährt heute das Schicksal ihres Gründers Jesus Christus, der ein Zeichen ist, dem widersprochen wird (vgl. Lk 2,34).

Es sind heute zwei verschiedene Ebenen, auf deren Gegensatz das Mißverständnis zwischen Kirche und Welt beruht: Wenn sich z.B. die Kirche gegen die Tötung ungeborenen menschlichen Lebens wendet und die Ablehnung jeder Form von Abtreibung ausspricht, muß die Kirche die Begründung ihres Tötungsverbots in Gott selbst aufweisen. Wenn es niemals und unter keinen Umständen erlaubt ist, einen unschuldigen Menschen direkt zu töten, muß die Kirche von einer Gotteswirklichkeit ausgehen, die eine moralische Ordnung umfassend, unveränderlich, unbedingt und ausnahmslos begründet. Gott selbst ist es, der dem Menschen die Würde und die Rechte der Person gibt. Die Kirche begründet das Lebensrecht des Menschen im unveränderlichen Wesen und Willen Gottes.

Wenn nun aber der Kirche eine Welt gegenübersteht, die keinen absoluten und transzendenten Anspruch gelten läßt, die die Freiheit ihrer Bürger gerade darin festschreibt, daß den Bürgern kein absoluter und unbedingter Anspruch der Sittlichkeit zugemutet werden darf, ist das Mißverständnis der Kirche durch die Welt a priori festgelegt. Eine Welt, die ein Verstehen des Menschen und seiner moralischen Verpflichtungen durch Gott ausschließt, kann ohne die Wirklichkeit Gottes gar nicht verstehen, worum z.B. es bei der Unantastbarkeit des Menschenlebens geht.

Ein politisches System, das die Wirklichkeit Gottes gar nicht in Betracht zieht, wird sich auch als moralisch gerechtfertigt dadurch darstellen, daß die Abtreibung nicht mehr die Sache der reichen Frauen, sondern das Recht aller ist, daß kundige Ärzte und nicht mehr Pfuscher abtreiben, daß die Verfügung der Frau über ihr ungeborenes Kind zum Recht der Selbstverwirklichung erklärt wird. Die Kirche hingegen erklärt, daß in der Frage der Abtreibung im Sinne Gottes kein Kompromiß möglich ist, der irgendwann oder irgendwie die Tötung unschuldigen, ungeborenen Lebens erlauben könnte.

In der Auseinandersetzung zwischen Kirche und Welt geht es letztlich immer um die Wirklichkeit Gottes: Die Botschaft der Kirche wird von der Welt mißverstanden, wenn für die Begründung dieser Botschaft nur die politischen, sozialen und humanen Gegebenheiten anerkannt werden und die Gotteswirklichkeit als eine subjektive und private Meinung zurückgedrängt wird. Wenn hinter den moralischen Geboten der Kirche nur der Ausdruck eines bestimmten kulturellen und relativen Bewußtseins vermutet wird, wird man der Kirche Rechthaberei und Mangel an Mitarbeit und Toleranz vorwerfen.

Wenn jedoch ein moralisches Gebot in einem göttlichen Transzendenten begründet ist, ist die Botschaft der Kirche der Ausdruck einer Wirklichkeit, die in den Maßstäben der Welt nicht ermessen werden kann.

Das Einzelbeispiel der Abtreibungskontroverse zeigt deutlich jenes Problem, das die Glaubensgemeinschaft der Kirche in einer säkularisierten und jeder Transzendenz widersprechenden Welt vorfindet: Obwohl die Kirche im Auftrag Gottes spricht, darf sie in einer säkularisierten Welt nicht das sein, was sie ist und sein muß, um Kirche zu sein. Die säkularisierte Welt abstrahiert nicht einfach vom Gottesglauben der Christen, sondern verneint Gott völlig, indem sie Gott von allen Plätzen der Wirklichkeit ausschließt.

Wenn sich heute die Kirche zur Neuevangelisierung in Europa aufmacht, hat sie es nicht mit der Aufgabe zu tun, aus lauen und bequemen Christen wieder eifrige zu machen. Viele von denen, die sich vielleicht noch Christen nennen, haben sich nicht nur vom Glauben und von der Kirche entfernt; viele von ihnen haben sich von der Wirklichkeit Gottes abgewendet. Eine Neuevangelisierung muß zuallererst ein Wiedergewinn der Gotteswirklichkeit sein. Wie eine Rechnung nur eine richtige Lösung, aber unendlich viele falsche Lösungen haben kann, so hat der eine wahre Glaube an den einen Gott unendlich viele irrige Wege der Gottesverneinung und der Gottvergessenheit.

Der Mensch verneint Gott dann, wenn Gott mit seinen Geboten der Lebensweise im Weg steht und der Mensch sich nicht bekehren und nicht zur Übereinstimmung mit Gott kommen will. Gott wird inmitten des Wohlstands vergessen, wenn der Mensch dem "Haben" den Vorrang vor dem "Sein" gibt. Es gibt aber auch eine Menge von quasi-theoretischen Vorurteilen, die heute allgemein im öffentlichen, kulturellen Bewußtsein verbreitet werden und der Wirklichkeit Gottes von vorneherein den Platz streitig machen: Wer z.B. sagt, daß es keine Wahrheit gibt oder daß die Wahrheit nicht erkannt werden kann, der opfert die Wirklichkeit Gottes dem Agnostizismus, dem Relativismus und der intellektuellen Gleichgültigkeit. Wer Freiheit nur Freiheit sein läßt, wenn sie die Erfahrung des Bösen und der Sünde einschließt, braucht die Verneinung des Willens Gottes zu seiner Selbstverwirklichung. Über solche Vorurteile hinaus gibt es den Gottesverlust aus Verzweiflung, wenn Leiden, Sterben, Krieg, weltweite Ungerechtigkeit und Unterdrückung des unschuldigen Menschen sich nicht beantworten lassen.

Oft ist es eine schaurige Botschaft, die der Philosoph Friedrich Nietzsche für den Zeitgeist der Säkularisierung und der Gottesverneinung zu einem schrillen Protest gebraucht hat: "Gott ist tot".

Ein an sich widersinniges Wort; denn, wenn Gott wirklich Gott ist, stirbt er nicht; und wenn Gott nicht existiert, braucht er nicht zu sterben. Dennoch ist dieses widersinnige Wort der Inbegriff für die Meinung geworden, Gott sei nichts anderes als eine phantasievolle Erfindung des Menschen, als eine vergöttlichte Sehnsucht menschlicher Gefühle, als ein Mittel für Macht und Herrschaft über andere, das der religiöse Mensch aus purem Eigeninteresse verkündet und verwendet. Wenn vom "toten Gott" die Rede ist, wird Gott nur als Projektion und Konstruktion des Menschen selbst vermutet, die dann tot sind, wenn der Mensch alles Transzendente, Absolute, Allgemeine und Normative von sich weist. Daher ist es im Diskurs unseres Kulturbewußtseins gängig geworden, daß der Mensch nur jede Form des "Über - Ich" durchschauen und demontieren müsse, um von jedem höheren Anspruch eines Göttlichen sich zu befreien.

Heute wird öffentlich vieles ausgesprochen, was früher aus Gründen der persönlichen Diskretheit ungesagt blieb. Die vielleicht stärkste Bindung an Gott und an das Gewissensurteil erfährt der Mensch in seiner Sexualität. Wenn es z.B. heute Diskussionen über religiöse Themen gibt, tritt nach kürzester Zeit das Thema der Sexualität als die "Gottesfrage" auf, gleichgültig ob man als Thema die Kirchenlieder, die sakrale Kunst oder den neuen Katechismus gewählt hat. Der Mensch von heute hat seine Gottesfrage und Gottesverneinung an der Frage der Sexualität festgebunden, sodaß jede Frage nach Normen, Werten, Schöpfungsordnung und Daseinsdeutung den Willen und die Ordnung Gottes bezüglich der Sexualität in Streit stellt.

Im Moralgefühl des heutigen Menschen gilt in der Sexualität angeblich alles als erlaubt, was Lust und Spaß bringt. Aber auch innerhalb der Kirche gibt es Interpreten der Sittlichkeit, die meinen, daß alles Sexuelle erlaubt sei, wenn es nur "aus Liebe" geschieht: Ehebruch "aus Liebe", voreheliche Sexualität oder Sodomie "aus Liebe" wären nach diesem Formalismus des "Aus Liebe" nicht mehr zu beanstanden. Schrankenlosigkeit "aus Liebe" ist natürlich eine sehr einfache Regel. Wen darf es wundern, daß heute jeder öffentlich sich in seiner Sexualität prostituiert und man einander mitteilt, ob man hetero-, homo- oder bisexuell sei?

Diese Mitteilung scheint so wertfrei zu sein wie die Angabe, ob man Links- oder Rechtshänder ist. Wer dennoch noch Skrupel hat, wird sicher einen "Experten" finden, der ihm aus der Bibel oder aus der "Moral von unten" das Gewünschte bestätigt.

Zu all dem wird der Vorwurf propagiert, die Kirche sei in ihren Urteilen und Vorrangigkeiten einseitig, ja geradezu krankhaft auf Sexualität und Verbote fixiert. Gleichzeitig wird die Kirche als die Verkündigerin eines unbarmherzigen und strafenden Gottes denunziert. Dazu eine Anmerkung aus Erfahrung: Leider wird manchmal aus Furcht vor mangelnder Akzeptanz in der Botschaft des Glaubens zu selten auf die Gebote Gottes und auf die Ordnung des Schöpfers Bezug genommen. Die angebliche Fixierung der Kirche auf das einzige Problem der Sexualität kommt nicht von der Kirche; es ist die Beschränkung und Fixierung der Fragenden, die keine anderen Fragen als die der Sexualität zu stellen wissen. So sieht alles Tun und Entscheiden der Kirche als eine ausschließliche Auseinandersetzung mit einer chaotisch sexuellen Welt aus, weil in der Öffentlichkeit nur mehr gemeldet wird, worauf sich das Interesse vieler Menschen verengt hat. Schließlich wird ständig behauptet, daß nur mehr eine verschwindende Minderheit um die Gebote Gottes und um die Lehre der Kirche sich kümmert; warum aber dann die Dauerschelte für eine Kirche, deren Botschaft man ohnedies für belanglos hält?

Im Geistesbild Mitteleuropas wird die "Wirklichkeit" immer vielschichtiger. Galten einst nur die Tatsachen und Tatbestände der einfachen Wirklichkeit, so wird heute die Tatsachenwirklichkeit vor allem von einer Medienwirklichkeit abgelöst, die aus einer Komposition von Unterhaltung, Interpretation, gruseligem Theater, Interessenperspektiven und einseitiger Anschaulichkeit in Bildern und Schlagzeilen resultiert. Nicht selten geschieht es, daß Kinder und Jugendliche die ursprüngliche Wirklichkeit von der "zweiten Wirklichkeit" der Medien nicht unterscheiden können. Politiker und von der Gunst der Massen abhängige Menschen rüsten auf Image und Akzeptanz um und verlieren damit ihre ursprüngliche Identität. Nicht mehr die Tatsachen zählen; es stellt sich als wichtigste Frage, wie etwas bei den Massen ankommt, gleichgültig ob es wahr oder falsch, gut oder böse ist.

So gibt es Entrüstung über manches, weil die Entrüstung gut ankommt, nicht aber weil man wüßte, warum man sich zu entrüsten hat. In der Kirche beispielsweise pflegt man eine Art von Pastoralpessimismus, der überall Niedergang, Verlust des Glaubens und Schwinden der Kirche als geradezu naturnotwendige Gesetzlichkeit darstellt, man beklagt den Verlust von Normen und Werten und tanzt doch gleichzeitig begeistert auf jener schiefen Ebene, die in den Abgrund neigt. In der Kirche wird zuweilen der Widerspruch in den Erfahrungen mit sich selbst nicht wahrgenommen, denn gleichzeitig mit Ausrufung der Toleranz für alle verfährt man höchst intolerant mit jenen, die gewissen Sympathieordnungen nicht angehören; gleichzeitig mit verbalen Beteuerungen gegen Ausgrenzung grenzt man jene aus, die sich dem Diktat der selbstgefälligen Großartigkeit nicht beugen.


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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 05.12.1997.

 

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