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Ansprache bei der Jahresschlußandacht
im Dom von St. Pölten am Silvestertag 1999

1. Unwiederbringlich ist das Jahr 1999 in wenigen Stunden Vergangenheit. Bevor der Lärm in dieser Nacht zu 2000 losbricht, laßt uns in Dankbarkeit vor Gott betend verweilen. Gott schenkt allen Geschöpfen Ziel, Sinn und Dasein. Trotz aller Leiden und Mühen konnte jedes Ereignis des vergehenden Jahrhunderts doch noch eine Lichtspur der Güte Gottes aufstrahlen lassen; denn nichts ist bloß blinder oder gar grausamer Zufall; überall wirkt Gottes Weisheit und Güte; nichts ist davon ausgenommen, in der Vorsehung Gottes zu sein und zu wirken. Laßt uns Gott dem Herrn und vielen guten Menschen danken, daß in unserem nun hinabsinkenden Jahrhundert es doch immer wieder die Hoffnung gab, daß Gott alles zum Guten und zum Besseren wendet.

2. Seit acht Jahren bemühe ich mich, zu Ende eines Jahres die Ereignisse vor dem allmächtigen Gott, vor dem Erlöser Jesus Christus, vor der Kirche Christi und vor unserem Gewissen zu deuten, damit wir die Zeichen der Zeit erkennen, für die uns der Heilige Geist wahre Einsicht schenkt. Nicht wenige haben ein oder gar zwei Weltkriege erlebt. Große Papstpersönlichkeiten und das II. Vatikanische Konzil haben den Geist Christi in diesem Jahrhundert gegenwärtig gemacht. In den letzten Tagen dieses Jahres haben wir uns oft mit der Frage gequält, wer denn eine Jahrhundertpersönlichkeit, ein Jahrhundertsportler, ein Jahrhundertkünstler usw. sei; die letzten Stunden des Jahrhunderts verdienen mehr als solche törichte Fragen und Bewertungen. Wenn alle Fragen und Überlegungen unserer kurzen Zeit beantwortet sind, werden weder unser Ansehen bei den Menschen noch Image und Prestige zählen; es wird nur zählen, ob wir vor Gott und vor unserem von Christus gebildeten Gewissen bestehen können im Guten, in der Geduld, in der unbedingten Treue und Heiligkeit, in guten Werken und im Zeugnis für die Wahrheit Christi und seiner Kirche. Ohne Gott bleibt selbst die Zeit der Welt ein toter Punkt, ohne Ziel, ohne Grund, ohne Sinn und ohne Sein. Gott ist Leben, Gott ist Liebe; Gott gibt uns allen Sein und Leben, in dem sich alles ereignet, was wirklich ist.

3. Auch heute habe ich wiederum vielen zu danken: dem Weihbischof, den engeren Mitarbeitern in der Diözese, den Priestern und Diakonen, den pastoralen Helfern, den vielen Gläubigen, die ihrem Glauben treu sind und die Sache der Kirche mit großmütigem Einsatz und mit Opferbereitschaft tragen. Ich danke allen Gläubigen, die ihren Kirchenbeitrag leisten; ohne diesen Beitrag könnte unsere Diözese vieles nicht zum Wohl der Menschen tun. Herzlich danke ich auch jenen Brüdern und Schwestern, die über den Kirchenbeitrag hinaus mit ihrer Gabe die Anliegen der Mission, der Entwicklungshilfe, der Sorge für die Armen und Notleidenden großzügig durch Mitarbeit und Spenden unterstützen. So beten wir auch in dieser Stunde: Herr, gib allen, die Gutes tun, den Lohn des ewigen Lebens bei dir.

4. Unser versinkendes Jahrhundert war eine Zeit der Großtaten Gottes, aber auch ein Jahrhundert der Tränen und Leiden, der Not und der Kriege. Werden wir aus der Geschichte etwas Gültiges für die zukünftige Zeit gelernt haben? Wird es daraus Konsequenzen für unser persönliches Leben und für unsere Liebe zur Kirche geben? Aus besonderer Erfahrung wüßte ich vieles, was an Gutem wir unterlassen oder an Besserung wir hätten suchen sollen. Ohne Liebe zu Gott und zum Nächsten ist vieles Wissen und ein bloß behaupteter Glaube einfach nichts. Es gehört zu den charakteristischen Zeitsünden, daß wir vieles feierlich verkünden und versprechen, aber nicht Wort halten; oft sind wir süß und freundlich, aber zugleich falsch und lügnerisch; nicht selten mischen sich auch Faulheit und Feigheit in unseren Mangel an Liebe. Wo die wahre Liebe zu Gott und zum Nächsten fehlt, dort treten Haß und Neid, Schadenfreude und Kritiksucht, Stolz und Eitelkeit, Verleumdung und Hartherzigkeit, geistige Enge und Loyalitätsmangel, Ungehorsam und Ehrfurchtslosigkeit als die Defizite auf, die auch in unserer Diözese sich ereignen und ereignet haben. Vater, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben denen, die uns Böses tun.

5. Unsere Diözese macht hierin keine Ausnahme; in leidvoller Erfahrung jedoch dürfen wir auf bessere Zeiten hoffen, denn den Liebenden sind von Gott ein neuer Himmel und eine neue Erde verheißen, in denen die Gerechtigkeit wohnt. Es gibt immer wieder Menschen, die sehen und doch nicht sehen wollen, die hören und doch nicht begreifen wollen. Immer wieder müssen wir Gott Vater, Gott Sohn und den Heiligen Geist bitten, damit die Wunden dieser Sünden geheilt und die Härte aus unseren Herzen vertrieben werden. Oft rühmen wir uns statt uns zu schämen.

6. Wenn Gott für uns wieder Wirklichkeit geworden ist, werden wir uns wieder zur Frage an Gott erheben: Was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Gutes kann nur der tun, der die Gebote Gottes hält; das ewige Leben kann nur der gewinnen, der sich bekehrt, der Buße tut und sich mit Gott versöhnt. Wenn wir wollen, daß Christi Reich kommt und wir der Erlösung teilhaft werden, dann müssen wir den Weg der Gnade in den Sakramenten der Kirche, besonders im Sakrament der Buße, gehen. Viele Kirchen in unserer Diözese sollen im Heiligen Jahr besondere Orte für Buße und Erneuerung sein; kommt, ihr werdet Gott finden, wenn ihr aus ganzem Herzen die Versöhnung mit dem barmherzigen Vater sucht. Das Heilige Jahr sei also ein Jahr der Gewissenserforschung und Beichte; der Leib und das Blut Christi in der heiligsten Eucharistie seien das Pfand eines Lebens in und durch Christus. Wir wissen, daß der Auferstandene nicht mehr stirbt; und derselbe Auferstandene verheißt uns: Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot ißt, wird in Ewigkeit leben; er wird nicht sterben (vgl. Joh 6, 51.50).

7. "Wir sind Kirche" ist das Leitwort heute von solchen, die in der Kirche eher ein profanes, soziologisches und politisches Gebilde sehen wollen als ein aus Gnade geschenktes göttliches Geheimnis. Wer die Dimension des Übernatürlichen der Kirche verneint, macht die Kirche zum Machbaren aus bloß natürlichem Tun. Die Kirche ist letztlich jedoch eine "Vorgabe" der göttlichen Liebe und nicht das Resultat einer ehrfurchtslosen Kritik und Strategie. Erneuerung wird nicht gelingen, wenn die Ehrfurcht vor dem göttlichen Ursprung der Kirche durch kritischen Irrtum und profane Verfügbarkeit verletzt wird. Wir müssen deutlich widersprechen, wenn das wahre Wesen der Kirche in die Gefahr der falschen Lehre und der zerstörten Ordnung gerät. So muß auch jeder Dialog in der Kirche seine Grenzen beachten und sich an der göttlichen Wahrheit der Glaubenslehre ausrichten.
Für alle, die durch fremde oder aus eigener Schuld in eine Glaubenskrise geraten sind, wollen wir beten; Zeugen Christi vor der Welt und für unsere gefährdeten Brüder und Schwestern wollen wir sein. Wir wollen ihnen zurufen: Geht mit uns den Weg zum Vater. Wer Gott und den Glauben einmal verloren hat, kann wiederfinden, was zu seinem Heil ist.

8. Wir sind noch bedrückt und traurig über die Katastrophe von Wilhelmsburg. Wir sind ratlos über das Unglück, das liebe Angehörige entrissen hat. Menschen leben bei solchen Ereignissen mit der Frage: Warum ist mir nichts passiert, warum mußten andere aber sterben? Auch die Psychologie kann keine letzten Antworten geben. Jesus spricht einmal über ein ähnliches Ereignis: 18 Menschen wurden beim Einsturz des Turmes von Schiloach erschlagen (vgl. Lk 13,4 f); sie wurden erschlagen, obwohl alle anderen Bewohner Jerusalems auch auf sich Schuld geladen hatten, Jesus sieht in diesem Unglücksfall nicht eine besondere Strafe dieser 18 Menschen; aber er deutet Katastrophen dahin, daß wir uns alle bekehren sollen.
Schwer fällt es uns, Gottes Ratschluß zu ergründen; unsere Vernunftgründe versagen in solchen Fällen; dennoch hat uns Jesus beten gelehrt: Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Und in Tränen und Leid dürfen wir dennoch getröstet bekennen: Wenn Gottes Wille geschieht, fallen wir doch immer in Gottes gütige Hände. Einmal wird uns Gott den Einblick in sein gütiges Herz schenken, denn einmal dürfen wir Gott schauen, wenn wir Gott einst ähnlich sein werden (vgl. 1 Joh 3,2).

9. Über die kommende Zeit des 3. Jahrtausends gibt es viele kluge, aber auch viele törichte Gedanken, Ideen, Prognosen und Programme. Jeder Tag wird seine Mühen und Rätsel haben. Wir werden Durchblick durch den Lauf der Dinge haben, wenn wir uns nicht in allem ständig an uns selbst verlieren. Wer Gott liebt, der muß nicht ständig fragen, was ihm eine subjektive religiöse Erfahrung "gibt". Diese Erfahrungen, die der Mensch heute ständig um sein "Ego" anlegt, verdunkeln nur die Wirklichkeit Gottes, machen unseren Glauben immer weniger vernunftbezogen, verwirren unsere Freiheit, zerstören die objektive Ordnung von Gebet und Liturgie und schaffen in vielen Menschen einen Primat des Egoismus, der oft törichte Verblendung des Herzens ist. Immer weniger fragt man nach Konsequenz und Stimmigkeit der eigenen Prinzipien; immer öfter werden Forderungen gestellt, die man selbst zugleich nicht einhält. Jeder Begriff von "Wahrheit" wird ausgelöscht; die Selbstverwirklichung ist schließlich das einzige, das noch gelten darf. Selbstverwirklichung ohne Gott aber hat keine gute Zukunft des Menschen.

10. Jesus Christus widerspricht dieser Beschädigung des wahren Menschseins, denn er erlöst uns von unseren Sünden. Um einen nicht vergänglichen Preis, mit dem kostbaren Blut Christi, sind wir losgekauft worden von der Sünde. Wer sich von der Sünde löst und durch Christi Gnade ein neuer Mensch wird, der erfährt, daß wir mit der Sünde alles verlieren, wir aber durch Versöhnung und Frieden mit Gott unser wahres Menschsein gewinnen und ewig bewahren können. Es geht um dich, lieber Mensch, weil Gott dich zuerst geliebt hat und du heilig sein kannst als das von Ewigkeit erwählte und geliebte Kind Gottes. Kennst und liebst du Gott, wirst du dich selbst tiefer erkennen als mit allem Wissen und verwegenem Probieren.

11. Der Mensch ist frei, bleibt freie Menschen im Guten; was dir gehört, alles hast du von Gott; glaubt, hofft und liebt, weil es in eurem Leben immer um Gott geht; werdet reich im Guten und im Verzeihen; hört nicht zu denken auf. Unsere Heilsgeschichte, die sich einmal vollenden wird, hat ein einziges Prinzip: Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit (Hebr 13,8).

 


 
Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf WWW.STJOSEF.AT mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Kaplan Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 30.12.1999.