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Diözesanbischof Dr. Kurt Krenn von St. Pölten

 

Wesenlosigkeit des Menschen und erfüllte Zeit
Vortrag in Walleshausen am 30. Oktober 1994

Vor kurzem gab es die Meldung, daß neue Funde den Schluß nahelegen, daß es den Menschen schon seit viereinhalb Millionen Jahren gibt. Wie es auch um die Richtigkeit dieser Meldung bestellt sein mag, kehrt dennoch die Frage wieder, was aus dem Menschen wird, sollte er etwa noch einmal viereinhalb Millionen Jahre oder länger existieren. Wir erleben in manchen Bereichen einen so raschen Fortschritt, daß selbst die kühnsten Träume nicht mehr weit genug reichen. Wird der Mensch immer Mensch sein, oder entfernt er sich eines Tages von dem, was er seinem Wesen nach ist? Über wenige Tausende von Jahren kennen wir so etwas wie "Geschichte"; seit 2000 Jahren zählen wir die Zeit nach Christi Geburt.

Es gab manchmal den Versuch, aus den Gegebenheiten der Geschichte, aus Politik, Kultur, Religion, Wissenschaft und allgemeiner Entwicklung, jenen Punkt zu fixieren, an dem Gott Mensch werden mußte. Solchen Konstruktionen der Notwendigkeit kann theologisch nicht zugestimmt werden, da die Taten Gottes in der Geschichte auch insofern göttlich sind, weil sie aus der absoluten Freiheit Gottes kommen. Gott "mußte" nicht Mensch werden, der ewige Sohn Gottes "wollte" jedoch ein Mensch wie wir werden und "mußte" zugleich auch Gott sein. Dennoch gibt uns das Neue Testament ein weit deutbares Wort, das in die Geschichte der Welt hineinragt; im Galaterbrief steht: "Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau ..." (4,4). Freikauf vom Gesetz sollte geschehen, Söhne Gottes und Erben sollten die Erlösten durch Christus werden (vgl. 4,4-7).

Was ist diese erfüllte Zeit, in der Gott Mensch wird: Ist sie das Ende einer langen und vergangenen Zeit oder der Beginn einer neuen Zeit? Sicher ist die eine mit der anderen Zeit verbunden, denn in jedem Fall ist Gott der Handelnde. Sicher ist, daß in der erfüllten Zeit Gott in Christus ein ewiges Verhältnis zum Menschen gefunden hat: der Mensch ist nicht mehr ein Geschöpf, das Gott wollen oder auch nicht wollen kann. Durch Christus ist der Mensch nun ewig in Gott hineingenommen, Gott verpflichtet sich für immer auf den Menschen; der in Gott hineingenommene Mensch berührt in seiner Würde und Unüberbietbarkeit über das Wollen Gottes hinaus Gottes Wesen selbst. Die erfüllte Zeit bedeutet, daß nunmehr von Gottes Wesen her der Mensch, die Welt des Menschen und die Geschichte des Menschen ihre Geltung haben. Nicht unfaßbare Dekrete des göttlichen Wollens sind Erkenntnis- und Seinsgrund des Menschen und seiner Welt; was Christus in seiner Menschwerdung annahm, weist nun von sich aus in Gottes Wesen und macht alles, was des Menschen ist, zur Sache Gottes und zu einer Kundgabe seines Wesens. Die Kreatürlichkeit des Menschen ist damit nicht aufgehoben; es bedeutet jedoch, daß es für Gott keine andere Alternative zum Menschen gibt, der von Gott geliebt ist und Gott über alles lieben soll.

In Gott gibt es keinen Unterschied, denn sein Wesen ist sein Wollen und sein Wollen ist sein Wesen. Da wir Menschen jedoch mit dem Wollen die freie Entscheidung verbinden und mit der freien Entscheidung wiederum eine Art unergründbarer und unableitbarer Zufälligkeit verstehen, gelingt es dem menschlichen Denken nicht unbedingt, die Verschiedenheit von Wollen und Wesen Gottes durch unsere Begriffe zu überwinden und zu einen. Dennoch dürfen wir wissen, daß das geschichtliche Ereignis der Menschwerdung Christi und die damit verbundene Erhebung des Menschen auch im Wesen Gottes ruhen.

Es ist der göttliche Auftrag an die Kirche, die Erlösung des Menschen zu vergegenwärtigen und durch ihren Dienst die Wahrheit des Menschen auszumessen. Mit Jesus Christus in der erfüllten Zeit ist etwas Irreversibles wirklich geworden, das den Menschen aus dem üblichen Gang der Geschichte und der Natur heraushebt und neue Bezugspunkte im Verstehen und Gestalten der Welt mit sich bringt: Scheint es der Gang der Natur zu sein, daß der Schwächere unterliegt und der Stärkere in jedem Fall recht behält, so entzieht der Mensch in der erfüllten Zeit sich diesem Diktat der Natur und der Kausalität; die Zuwendung zum Schwächeren folgt nicht dem Interesse der Natur, sondern dem Sinn der erfüllten Zeit. Der Mensch rechtfertigt sein Dasein und seine Rechte nicht (mehr) durch Besitz, Macht, Wissen oder Fertigkeit, sondern durch sein Mensch-Sein in der erfüllten Zeit: Gerechtigkeit darf Barmherzigkeit sein, Solidarität darf Selbstlosigkeit sein, Gutes darf Gottgefälliges, Wahres darf Befreiendes, Liebe darf Feindesliebe, Freiheit darf Gehorsam, Identität darf Treue, Wissen darf Glauben und Nachsinnen darf Gebet sein.

Wenn man nun die Frage stellt, wozu der Christ heute herausgefordert ist, braucht eine ausreichende Antwort zunächst den Blick auf die immer gegebenen Herausforderungen, auch auf die vergangenen und zukünftigen. Die Zeichen der Zeitlosigkeit bleiben unlesbar, wenn Erlösung und Kirche in Welt und Geschichte nur als Appelle der sozialen Ordnung und der üblichen Humanität wirken, die in Christus erfüllte Zeit jedoch nicht als seinshaft verstanden wird. Die immerwährende Herausforderung des Christen liegt darin, daß er wahrnimmt und bezeugt, daß Mensch und Geschichte in der erfüllten Zeit eine neue Ordnung in der Dimension des Humanen haben; denn durch die Erlösung ist der Mensch gegen alle Macht und bloße Natur in die Mitte gerückt und wird im Sinn des Erlösers zum "Maß aller Dinge".

Auch im Denken der Kirche gibt es die Versuchung, die Geschichte so zu deuten, daß ein großartiger Höhepunkt z.B. in Kultur, Wissenschaft, Machtverteilung, Evolution als Ziel der Geschichte gilt, der alles Geschehen daraufhin rechtfertigt. So wurde z.B. die Deutung von Evolution und Geschichte eines Teilhard de Chardin oder einer marxistisch inspirierten Befreiungstheologie zur großen Versuchung, sich aus religiösen Gründen einer gigantischen Anonymität zu unterwerfen, die alles für geringer erklärt, was vorher geschieht und den fiktiven Höhepunkt noch nicht erreicht. Als Christen jedoch sind wir nicht die Handlanger und auch nicht das instrumentalisierte Material für eine Geschichte auf Höhepunkte hin. Die erfüllte Zeit will nicht Höhepunkt, sondern "Heil" des Menschen sein; dies gebietet sich mit jedem Menschen neu, wo er auch leben, was er auch sein mag, welchen Platz er auch im Gang der Geschichte besetzen mag. Die durch Christus erfüllte Zeit bedeutet aber auch nicht "Endzeit", die heute mehr denn je zur Botschaft der Sekten geworden ist. Nicht Höhepunkt und nicht Weltende, nicht Apokalypse und nicht Illusion gehören zur erfüllten Zeit; es ist der erlöste und durch Christus zu sich selbst gebrachte Mensch, der der Fall und der Ernst des Ganzen ist. Ein einziger Mensch ist mehr Ernstfall in sich als die Summe geschichtlich ablaufender anonymer Ereignisse und Entwicklungen.

Es wäre allerdings ein Versäumnis, wollten die Christen ihr Getragensein von der erfüllten Zeit als ein religiöses Privatissimum verbergen und sich angepaßt zur Welt verhalten und betätigen. Was wirklich ist, darf nicht verborgen bleiben; es muß wirksam unter den Christen und auch in der Welt sein. Die erfüllte Zeit hat andere Gewichte; wenn daher die Christen bei aller Anstrengung auch in Gelassenheit bezeugen, daß durch Christus die Ordnung der Welt und auch der Gesellschaft eine andere ist, so üben sie nicht einfach stoische Haltung aus Willenstärke, sondern ein Wissen um die neue Wirklichkeit aus. Der Apostel Paulus beschreibt im 2. Korintherbrief etwas von der Realität der erfüllten Zeit: "Wir leben zwar in dieser Welt, kämpfen aber nicht mit den Waffen dieser Welt. Die Waffen, die wir für unseren Feldzug einsetzen, sind nicht irdisch, aber sie vermögen durch Gottes Macht Festungen zu schleifen,´ Pläne zu durchkreuzen und alle hohen Bauten niederzureißen, die sich gegen die Erkenntnis Gottes auftürmen. Wir nehmen alles Denken gefangen und unterwerfen es Christus ... " (10,3 ff.).

In der erfüllten Zeit ist der Bezugspunkt aller letzten Fragen der erlöste Mensch, das Heil des Menschen. Dieser Bezugspunkt zerstört die Diktates des Scheins und gibt der Welt die Wahrheit des erlösten Menschen.

Wir haben Worte Jesu, die die neue Ordnung der erfüllten Zeit in Entscheidungen festhalten: "Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben verliert?" (Mt 16,26). Wie dieses Wort auch gedeutet werden mag, immer haben der Mensch, sein Leben und sein Heil Vorrang vor der ganzen Welt.

Wir bewegen uns heute in einer Zeit, in der die Öffentlichkeit der Propaganda, der Meinung, der Beurteilung vor allem im vielfältigen Geflecht der Massenmedien zu einer "zweiten Wirklichkeit" geworden ist, die es vorher so nicht gegeben hat. Die Gefahren der Anpassung gegen den Anspruch des persönlichen Gewissens und die Gefahren der Unterwerfung unter das Diktat des öffentlichen Urteils sind zahllos geworden. Es gehört daher zu den größten Herausforderungen der Kirche von heute, in das Geflecht dieser entpersonalisierten Öffentlichkeit jene Maßstäbe einzubringen, die es ermöglichen, der Unterwerfung unter diese sogenannte zweite Wirklichkeit sich zu entziehen und Wahrheit geltend zu machen, die sich nicht am Druck der Öffentlichkeit, sondern an der persönlich bestimmten Wahrheit des einzelnen Menschen legitimiert. Wenn es in der erfüllten Zeit um Heil und Würde des Menschen geht, muß die Wahrheit durch das recht gebildete Gewissen eines jeden Menschen sagbar sein. Der oft bemühte Schein von Toleranz durch die Öffentlichkeit schafft keine gerechte Ordnung für die Wahrheit des Gewissens, sondern nimmt vielmehr dem Recht und dem Gewissen der menschlichen Person die authentische Ernsthaftigkeit und duldet diese nur als private Beliebigkeit ohne die geringste Vermutung von Wahrheit.

Die Herausforderung an die Christen liegt daher in der Schaffung einer Ordnung, in der Wahrheit und sittliches Urteil über Gut und Böse das Recht der menschlichen Person sind, das weder von einer Mehrheit noch von instrumentalisierten Strukturen der Öffentlichkeit gebeugt oder unterdrückt werden darf. Heute ist das Problem der Kirche nicht nur das freimütige Zeugnis des Glaubens, das manchem furchtsamen Gläubigen schwerfällt. Ein anderes Problem ist die Tatsache, daß Unwahres über die Kirche gesagt wird oder die Selbstdarstellung der Kirche verfälscht wird, ohne daß es möglich ist, angemessen zu antworten oder zu korrigieren. Millionen von Menschen werden durch Massenmedien auf unbegründete Vorurteile festgelegt, zur Verachtung des Glaubens und der Kirche verführt und im Interesse an einer gültigen Wahrheit gelähmt. Die Unwahrheit kann den Bereich der Information besetzen, während der Kirche oft jede Gegendarstellung verwehrt wird und eine angemessene Selbstdarstellung des Glaubens einfach nicht zugelassen wird. Kann es noch eine Wahrheit geben, die angesichts der Macht und Mehrheitlichkeit der interessenbedingten Information noch existieren kann? Tagtäglich erfahren wir die Ohnmacht angesichts dessen, was sich als Information ausgibt und das Denken des Menschen beherrscht.

 

Gab es einst kulturelle Konfigurationen, christliche Traditionen, ethisch geprägte Gesetzgebung und Rechtssprechung gemäß der "lex naturae" wie auch eine Art "sensus moralis" des Staatsvolkes, die in ihrem Zusammenwirken das ausmachten, was man die Weltanschauung des christlichen Abendlandes nannte, werden heute dagegen die Bereiche ohne Metaphysik, ohne Transzendenz und ohne ethische Allgemeingültigkeit gestaltet. Denn was im Zeitgeist heute gelten will, darf sich nur auf einzelne Subjekte und Situationen beziehen und darf keinerlei allgemeingültige Norm sein, der sich der entscheidende und handelnde Mensch als Mensch schlechthin unterwerfen müßte.

Was der Mensch tun soll und was er meiden soll, läßt sich nach den Grundsätzen des heutigen Zeitgeistes gemäß einer allgemeingültigen Norm, die für alle Menschen an allen Orten und zu jeder Zeit Geltung hätte, nicht beantworten. Das bedeutet, daß heute dem Menschen in sich und an sich kein "Wesen" eingestanden wird; denn, durch sein Wesen wäre der Mensch vor jeder Tat ein Mensch, der sich in seinem Innersten auf seinen Schöpfer bezieht, dessen Abbild er ist; in seinem Wesen hätte der Mensch mit allen Menschen eine Vorgabe von Gemeinschaft, in der alle Menschen längst vor aller gesellschaftlichen Organisation in persönlicher Würde und mit persönlichen Rechten verbunden sind; im Wesen des Menschen gäbe es für alle eine grundlegende Vorausverständigung über den Menschen und eine Gemeinschaft, in der gemeinsames Denken auf Wahrheit, gemeinsames Wollen auf Liebe, gemeinsames Austauschen auf Sprache und gemeinsames Arbeiten und Streben auf ein Gemeinwohl (bonum commune) ausgerichtet wären.

Da das Wesen eine beständige und umfassende Form des Seins und Handelns des Menschen ist, wäre im Wesen des Menschen gemäß dem Grundsatz "agere sequitur esse" bereits eine Instanz des Ethischen begründet. Diese ethische Instanz bedeutet, daß der, der Mensch "ist", nicht wie ein Tier sich gebärden darf; der, der Mensch "ist", darf sich auch nicht für Gott halten. Aber auch die Teilhabe unzähliger Menschen am Wesen Mensch bedingt eine vielfache Instanz des Ethischen, insofern alle Menschen als Menschen miteinander zu leben, füreinander zu sorgen, ihre Ziele und Gemeinsamkeit nicht gegen und nicht neben, sondern innerhalb des Wesens "Mensch" zu ordnen und zu verwirklichen haben.

Was der Mensch als ethische Instanz seines Wesens wahrnimmt, ist auch das, was die "Wahrheit des Menschen" ausmacht und Übereinstimmung damit in jedem Menschen einfordert. Der Mensch beginnt in seinem Dasein also nicht mit einem "Nichts", um sich sodann im Leben zu entwerfen, sodaß aus dem einem Menschen dies und aus einem anderen jenes wird, ohne daß darüber ein Vergleich oder eine Bewertung angestellt werden könnten. Das Wesen des Menschen ist vielmehr eine "Vorgabe", mit der Übereinstimmung im konkreten Leben zu finden ist. Freilich kann diese Sicht vom Wesen des Menschen nur gelten, wenn der Mensch in einer gewissen Teilhabe an Gottes Sein und Wesen steht, denn das Begrenzte und Kontingente befarf der Übereinkunft mit Gottes Geist und Gottes Willen.

Wenn wir noch einmal auf die Vereinsamung blicken, die sich aus der völligen Beliebigkeit und Wesenslosigkeit für den Menschen ergibt, entdecken wir, daß die Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheit und Allgemeingültigkeit in der beliebig gemachten Öffentlichkeit des Zeitgeistes eine gänzlich andere Auskunft über den Menschen ist; denn im Zeitgeist wird dem Menschen nichts Ewiges, nichts mit anderen Menschen Vergleichbares, nichts einer gemeinsamen Ordnung Würdiges zugetraut. Die unendliche Leere der menschlichen Autonomie, die sich nur auf ihren eigenen Befehl und Zufall berufen kann, kennt weder Lohn noch Glück, weder Ordnung noch Autorität, weder Recht noch Gerechtigkeit, weder Gut noch Böse, weder Identität noch Gemeinschaft, weil alle diese Momente im Verhältnis zum Wesen des Menschen stehen; das autonome Subjekt, das der Zeitgeist proklamiert, ist hingegen einsam, bezieht sich nur auf sich selbst und ist ohne mitteilbare Wahrheit.

Wenn wir vorhin fragten, wie wir die Ohnmacht der Kirche angesichts der Übermacht der öffentlichen Meinung und Berichterstattung verringern können, wird eine letztgültige Antwort nicht sein können, daß einer Übermacht eine ähnliche Macht der Kirche gegenübergestellt werden muß. Der Kampf zwischen Mächtigen führt vielleicht zu einem vorläufigen Gleichgewicht der Macht, kann jedoch nicht dem "circulus vitiosus" von "actio" und "reactio" in stetiger Steigerung entgehen. Zuerst muß der Preis bewußt sein, um den es in der gar nicht mehr wirklichen, "zweiten Wirklichkeit" der Massenmedien geht. Der Tiefenblick in dieses Problem befreit die Kirche nicht von der Pflicht, öffentlich aufzutreten, Instrumente der Information und Kommunikation zu schaffen, dem Irrtum und der Lüge zu widersprechen, Versäumtes nachzuholen, jeden Fortschritt in der Technik der Instrumentarien aufzugreifen, die Möglichkeiten der Selbstdarstellung in der Verantwortung der Kirche einzufordern und die schon verfügbaren kirchlichen Massenmedien in ihren Leistungen zu verbessern.

Recht will im Machtkampf der Massenmedien jener haben, der am lautesten und überall sich darstellt; Erfolg heißt Verdrängung jeder Konkurrenz; Wirklichkeit wird nur das sein, was andere verdrängt und nicht verdrängt ist. Es gab in unserem Jahrhundert die Überzeugung, daß gewisse inhumane Mächte unüberwindbar und von langer Dauer sind; so schätzten wir den Marxismus - Kommunismus in Osteuropa ein. Wir waren beeindruckt von diesen unzerbrechlich erscheinenden Mächten. Doch wir erlebten ein unbegreifliches Ereignis: Nicht an der militärischen Stärke des Westens und nicht an der Überlegenheit des freien Marktes scheiterten die politischen Machtgebilde Osteuropas; es waren einfach Menschen - ohne Waffen und dem staatlichen System der Massenmedien unterlegen -, die etwas zum Einsturz brachten, was man für ein unzerstörbares Gebäude hielt.

Sollten wir angesichts dieses erlebten Ereignisses nicht doch wieder den Mut fassen und einer Welt widerstehen, die gegen das Wesen des Menschen sich schließlich doch nicht behaupten kann? Was der Mensch in seinem Wesen ist, ist auch seine ethische Instanz; sein ethisches Sollen führt das Wesen aus. Das Wesen des Menschen bedeutet nicht irgendein blindes Dasein, sondern ist in sich Vorwegnahme und Maßstab dessen, worin sich der Mensch lebend gestaltet.

Der Wesenlosigkeit der Dinge und des Menschen entspricht als Weltanschauung der Agnostizismus, der wahre Erkenntnis für unmöglich hält, weil es an sich nichts zu erkennen gibt, d.h. weil es für den Agnostizismus kein Wesen gibt, dem ein Erkennen als allgemeingültig entspricht. Wesen und allgemeingültige Erkenntnis gehören zusammen; wo das Wesen verneint wird, dort ist eine allfällige Erkenntnis nicht allgemeingültig, sondern die Summe gesammelter Einzeltatsachen.


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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 25.10.1997.

 

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