Abschiedsvorlesung von Univ. Prof. em. DDr. Rudolf Weiler
an der
Phil.-Theol. Hochschule der Diözese St. Pölten am 4.12.2003

Das Apostolische Schreiben Johannes Pauls II.
Ecclesia in Europa
- eine Herausforderung für die christliche Ethik und Sozialethik

 

I. Einleitung

 

Bei der Einführung in das ethische Denken verwies ich gerne auf die Publikation von Bernard Williams von der Univ. Cambridge, auf sein Buch aus dem Jahr 1972: Morality, An Introduction to Ethics. Wie könne man zu einer generellen Theorie der Ethik kommen? Wie soll es besonders in der Postmoderne angesichts des Pluralismus der Ethiken, deren Subjektivismus und Relativismus, mit Güterabwägung (auf einer Waage ohne Gewichte, füge ich hinzu), weitergehen?

 

An den Anfang setzt Williams das Konstrukt des Amoralisten. Warum soll ich denn etwas tun? Warum ist hier etwas, was sagt, ich solle oder müßte es tun?

Der Amoralist findet subjektiv für sich selbst kein Sinn-Minimum, um zu leben; im Bezug zu anderen Menschen ist er doch nur ein Parasit im System. Mensch sein, ohne Moralität? Das ginge gar nicht!

 

Von dieser seiner Sicht her bringt Williams viele ethische Richtungen in der Moral zur Sprache: Subjektivismus, Relativismus - auch die Philosophie des Aristoteles wird genannt ...Moralische Standards mit unterschiedlichen Merkmalen des Menschlichen sind zu finden bis zu den heute vorherrschenden Strömungen des Utilitarismus. Die Frage nach Gut und Böse stelle sich für alle Menschen, stelle sich offen nach allen Richtungen zur Auswahl bei der Suche nach Gründen.

 

1989 war Bernard Williams Gastprofessor an der University of California in Berkeley. Seine Vorlesungen dort wurden 2000 im Akademia Verlag zu Berlin auch ins Deutsche übersetzt unter dem Titel: Scham, Schuld und Notwendigkeit, Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Die dort von Williamsvorgelegten Überlegungen zur Entwicklung der Moral heute, die den Utilitarismus offenbar bevorzuge, finde ich für die klassische christliche Ethik und ihre Lehre alarmierend. Wir reden doch ständig vom „christlichen Erbe“ in Europa!

 

Williams entdeckt unsere ethische Verwandtschaft mit den klassischen Griechen bis zum 5. vorchristlichen Jahrhundert. Mit dem kulturellen Rahmen, der sich bei Dichtern (!) und Philosophen mit den ethischen Ideen damals zeigte, stünde es nicht anders als heute bei uns, nur befand sich dieser Rahmen „in einem besseren Zustand“. Die Antike wäre nämlich realistischer gewesen!

 

Mit Zitat und Hinweis auf die klassischen Tragödien (nach dem Buch von Vernant, Jean-Pierre & Vidal-Naquet, Mythe et tragédie en Grèce encienne), schreibt Williams auf Seite 21: „In der tragischen Perspektive haben das Handeln und der Handelnde immer zwei Gesichter“, auf der einen Seite die Abwägung von Vor- und Nachteilen, auf der anderen Seite das Setzen auf das Unbekannte und Unverständliche: „ein Spiel mit den Kräften des Übernatürlichen“, nicht wissend, „ob sie einen Erfolg oder ein Scheitern planen“. ... Übernatürlich? Wir müssen darunter mehr als eine Formel verstehen, nämlich „was Notwendigkeit und Glück heißt und was sie bedeuten, wenn das dämonische Element wegfällt.“

 

Mit Plato und Aristoteles komme es in Bezug auf unsere ethische Beziehung zur Welt erstens zu einer „fortschrittlichen Perspektive“ gegenüber den archaischen Griechen. Die Folge: Wir teilen die ethischen Ideen der antiken Griechen, wollen es aber für unsere Lebenswirklichkeit nicht zugeben. Zweitens ist die Grundlage des politischen Liberalismus von heute auf beunruhigende Weise zerbrechlich geworden und die gesellschaftliche Lage – man denke nur an die Institutionen - sehr instabil geworden.

 

Dadurch ist die metaphysische Konzeption des Individuums ebenso betroffen wie das verantwortliche Handeln des Menschen: die historische reale Wirklichkeit wird zur politischen Wahrheit! Der Fortschrittsglaube also kann nicht mit dem realen Fortschritt mithalten. Als Beispiel dafür wird von Williams die in der Antike damals politisch fortbestehende Sklaverei genannt. Die soziale Position erweise sich also auch heute stärker als die These, der Fortschritt über ethische Vorstellungen bringe zugleich den sozialen Wandel.

 

In der logischen Perspektive des Handelnden stünden wieder Abwägungen

zugleich mit dem Denken an das Tragische/Dämonische im Leben im Vordergrund. Dies, als Spiel mit den Kräften des Übernatürlichen, sei Merkmal des Bewußtseins in der griechischen Welt gewesen. Unserem Bewußtsein heute sei das nicht gegenwärtig! Erfolg und Scheitern würden nicht zugleich bedacht.

Wie reagiert daher die Postmoderne heute auf das klassische und christliche

Naturrecht in der Tradition seit Plato und Aristoteles?

 

Das Naturrecht nun hat mit dem Personbegriff in seiner zentralen Bedeutung für Demokratie und Gemeinwohl die Wahrheit über den Menschen vertreten. Damit ist das Gesamtwohl der Person von Anfang der menschlichen Existenz an als Einzelwesen, das sich in der Familie entfaltet, ausgesagt. Im Ethos der Wissenschaften sind damit aus dem Gewissen heraus Ziele vorgegeben, die für den Menschen zu erreichen sind. Damit komme es zu Lösungen in Achtung der ethischen Prinzipien in Verbindung zum natürlichen Sittengesetz.

 

Der Weg vom fünften Jahrhundert vor Christus bis heute verlief über das Christentum. Er war späterhin durch das Christentum geprägt worden als Resultat der Geschichte als ein Weg vom Heidentum zum Christentum. Es hätte

auch anderes an Stelle des Christentums treten können. Aber wie es ging weiter? Nach dem Christentum kam es zu Liberalismus und Aufklärung! Der Liberalismus sei „Nachkomme des Christentums“ gewesen auf Grund des gestiegenen Bewußtseins vom Selbst des Menschen (vgl. S. 13).

 

 

Williams schreibt später (S. 147 –149) wörtlich:

„Viele Vergleiche zwischen der antiken und der modernen Welt gehen davon aus, daß die Antike die sozialen Rollen in der Natur verankert sein ließ. ... Tatsächlich gehört es ja wesentlich zum Credo moderner, liberaler Konzeptionen der sozialen Gerechtigkeit, daß sie die Existenz von notwendigen Identitäten vollständig leugnen. ... Vor allem aber lastet auf den europäischen und amerikanischen Vorstellungen der Riesenschatten eines aristotelisierten Christentums. … Das liberale Denken der Moderne lehnt sämtliche notwendigen sozialen Identitäten ab, aber es ist nicht dieses Element seiner Sichtweise, durch das sich seine Haltung gegenüber der Sklaverei von der Haltung der meisten Griechen unterscheidet. ... Der Liberalismus ... hofft, daß Vorstellungen der Notwendigkeit und des Glücks nicht an die Stelle von Gerechtigkeitsüberlegungen treten. ... Der moderne Liberalismus steht insofern in einer gewissen Distanz zur antiken Welt, nicht nur, weil er die Idee einer notwendigen Identität vollständig ablehnt, sondern auch, weil er sich dieses Problems überhaupt angenommen hat. Er hat sich die Aufgabe gesetzt, einen sozial gerechten Rahmen zu schaffen, um die Notwendigkeit und den Zufall zu kontrollieren, indem zum einen die Auswirkungen dieser Kräfte auf das Individuum abgefedert werden und indem zum anderen gezeigt wird, daß nicht alles, was sich nicht mehr abfedern läßt, das Resultat einer Ungerechtigkeit ist.“

 

Können wir daraus nicht schließen, nach Meinung Williams, bei den alten Griechen gab es noch die Einsicht in „ökonomische und kulturelle Notwendigkeiten“ und in „individuelles Unglück“? Sind damit Fortschritte im Rechtsbewußtsein nicht Utopie? Ist Soziale Gerechtigkeit denn realisierbar? Insbesondere, wenn wir an die weltweite Soziale Frage heute denken?

 

Ist noch weiterer humaner Fortschritt mit der Postmoderne in Sicht gekommen?

Die antiken Griechen befanden sich nach Williams, „was die grundlegenden Vorstellungen betrifft ... oft sogar auf festerem Boden als wir selbst“ (S. 8). Also sein Rat: Wiederbelebung antiker sittlicher Begriffe der Moral im postchristlichen Europa!

 

Im Apostolischen Schreiben vom 28. Juni 2003 „Ecclesia in Europa“ ruft Papst Johannes Paul II. dagegen zur Neuevangelisierung in Europa auf!

 

Hier wird auch mit den Grundwerten menschlichen Handelns mit christlicher Ethik die Pflege der „philosophia perennis“ über das klassische Naturrecht und das Christentum mit dem Beitrag der Scholastik im Licht des Evangeliums. gefordert, Es gelte, das Sittengesetz zu erneuern und weiter zu entwickeln, als festen Boden zuerst ethischer Kultur und in der Folge politischer Kultur und Kultur der gesellschaftlichen Institutionen. Das heißt darum nicht, zuerst und allein von Bindestrich-Ethiken und positivistischem ethischen System-Ersatz her grundsätzlich auf die Suche nach sittlicher Wahrheit zu verzichten, also damit das natürliche Sittengesetz nicht aufzugeben.

 

 

Was mußte ich nicht schon selbst von Lehrstuhlvertretern an unseren Hohen Schulen hier erleben! Es ging z.B. um die Auseinandersetzung um die Enzyklika Enzyklika Veritatis splendor (erschienen 1993). Darüber offen zu reden, müsse man erst den Tod des Papstes abwarten, nämlich warten auf einen Nachfolger, der die katholische ethische Tradition mit objektiv allgemein gültigem sittlichem Wahrheitsanspruch aufgibt und um des Diskurses willen absolute Toleranz gegenüber den ethischen Strömungen von heute zuläßt. Man will ja in ethischen Kommissionen mithalten können ...

 

Können wir das sittliche Naturgesetz und das Naturrecht denn ersetzen? Haben wir besseres? Müssen wir es aufgeben um der Dialogfähigkeit willen?

Der Weg allein über den ethischen Diskurs verzichtet jedoch auf die Wahrheitsfrage in der sittlichen Erkenntnis und führt in den offenen ethischen Pluralismus. Es bleibt dann bei„Angewandter Ethik“ ohne Grundwerte. Das ist die Situation, in der geschichtlichen Realität bei uns, wie sie schon weithin eingetreten ist. Fragen wir die Mehrheit der Mitglieder in unseren „ethischen Kommissionen“ nach der Menschenwürde, wie sie gesehen oder begründet werden kann. Beobachten wir die sittlichen Urteile und Anschauungen der Menschen, von denen wir täglich im Land - selbst in kirchlichen Kreisen! - lesen und hören können!

 

Das Naturgesetz als Gesetzesgebot?

Mein Lehrer Johannes Messner schrieb im Naturrecht, seinem Hauptwerk (Berlin 1984, 7. Aufl., S. 94):

„Das sittliche Naturgesetz ist ... für den Menschen Naturgebot und darüber hinaus Gesetzesgebot. Wir sagen ‚darüber hinaus‘, denn in seiner verpflichtenden Kraft ist das sittliche Naturgesetz als göttliches Gesetzesgebot ganz anders gesichert denn als bloßes Naturgebot. Trotzdem ist es für die Ethik unerläßlich, das sittliche Naturgesetz auch als wesenseigene Wirkweise der menschlichen Natur selbst, die sittliche Pflicht als Forderung der menschlichen Natur als solcher zu erwarten.“

 

Im absoluten ethischen Pluralismus von heute ist die katholische Kirche zur Neuevangelisierung herausfordert, das sittliche Naturgesetz im Licht des Evangeliums zu verbreiten, d.h. sittliches Naturgesetz und evangelisches Gesetz im Erbe aus den „christlichen Wurzeln“ Europas zu bewahren und fortzusetzen.

 

Wie es damit geht, sagt uns der Heilige Vater in „Ecclesia in Europa“:

 

II. Das Dokument

„Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt – Quelle der Hoffnung für Europa“.

 

Einleitung

 

Hiermit wird von einer Notwendigkeit heute, anders als im alten Griechenland gesprochen, von der „Notwendigkeit der Neuevangelisierung“ und vom „christlichen Erbe“ Europas, nämlich von Hoffnung und Herausforderung.

Das Schreiben faßt die Beratungen der „Europa-Synode“ von 1999 zusammen, wo u. a. auch die Kardinäle Sodano oder Lehmann schon vom „natürlichen Sittengesetz“ klar sprachen, zugleich vom „Naturrecht“, ohne das es nicht gehen werde. Die Einheit Europas zeige sich aus der Geschichte zwar in zwei verschiedenen Teilen. Aber angesichts der Wurzeln und der christlichen Inspiration werden, wenn auch in verschiedenen kulturellen Traditionen, diese zusammengeführt.

 

Diese Geschichte bedeutet Sinn durch den in seiner Kirche lebenden Christus, in seiner göttlichen Person! Daraus folge die Bedeutung des Personbegriffs für den Menschen, damit des Naturrechts in der Dimension des Sinnbegriffs (1 – 5).

„Die Zeit, in der wir leben“: Verlust des christlichen Erbes, Überhandnahme des Säkularismus und Ausbreitung des Individualismus = Verlust der Hoffnung?

Nihilismus im philosophischen Bereich, Relativismus, Verlust der Wahrheit, Kultur des Todes? (Nr. 7 – 9)

 

 Erstes Kapitel

 

„Verlust des christlichen Gedächtnisses und Erbes“ bedeutet auch Verlust des Begriffs von der Seele als Ebenbild Gottes und damit Verlust der unantastbaren Menschenwürde!

Die Folge sind die „Ismen“ wie Säkularismus, Individualismus, Relativismus ... Das Verständnis der Freiheit (auch der Freiheit der Kirche!) und der Menschenrechte als Freiheitsrechte geht verloren - ihre Sinnrichtung „auf Inhalte“ - und wird zur Forderung zum bloßen „frei von ...“. Der Wahrheitsbegriff entbehrt der konkreten Hinweise auf sittliche Werte, die Inhalt geben.

„Im Zusammenhang mit dem derzeitigen ethischen und religiösen Pluralismus, der Europa immer mehr kennzeichnet, ist es daher notwendig, die Wahrheit über Christus als einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen und den einzigen Erlöser zu Welt zu bekennen und neu vorzustellen.“

 

Zweites Kapitel

 

Einheit der Christen und Missionsauftrag. Ethische Frage beinhaltet auch Fragen um Berufung, um Stand und Lebensform, um Soziale Kultur in der Gesellschaft, die Bedeutung der Laien in der Kirche für Soziallehre und spirituelle Bildung, dabei die besondere Rolle der Frau!

„Der Herr ruft zur Umkehr, Voranschreiten in Richtung auf die Einheit der Christen“ – das ist ein wichtiger Beitrag zur Einheit Europas! (Nr. 30)

 

Drittes Kapitel

 

Die Wichtigkeit des Person- und Gesellschaftsbegriffs und der Sozialprinzipien!

Religionsfreiheit – Toleranz, aber Achtung vor von Scientismus inspirierten Auffassungen, daher „sittliche Kriterien anbieten, die der Mensch als in seine Natur eingeschrieben besitzt“.

Bildung: Christlicher Humanismus, Kunst für das Schöne, Sorge um die Massenmedien. Für Werte gegen Überwiegen rein wirtschaftlicher Kriterien.

 

Viertes Kapitel

 

Im christliches Leben „das Evangelium der Hoffnung feiern“. Die Inspiration durch die Soziallehre der Kirche ... für menschenwürdigere Gesellschaft nützen.

 

Fünftes Kapitel

 

 Dem Evangelium der Hoffnung dienen, in Gemeinschaft und Solidarität „den authentischen Sinn des christlichen Freiwilligendienstes wieder entdecken“.

Dem Menschen in der Gesellschaft dienen. „Sittliche Kriterien ins Bewußtsein“ rufen.

Vergötzung des Körpers in der Wohlstands- und Leistungsgesellschaft? Verdrängung des Leidens und des Schmerzes? Mythos ewiger Jugendlichkeit? Umwelt? Gebrauch der Güter der Erde? Lebensqualität?

Die Wahrheit über die Ehe und die Familie ...

Evangelium des Lebens umsetzen! (97)

Inspiration durch die „Soziallehre der Kirche ..., um die moralische Struktur der Freiheit verteidigen zu können und so die europäische Kultur und Gesellschaft sowohl vor der totalitären Utopie der ‚Gerechtigkeit ohne Freiheit‘ als auch vor der Utopie der ‚Freiheit ohne Wahrheit‘, die mit einem falschen Toleranzbegriff folgt, zu bewahren.“ (104)

Entschluß, „in Europa eine immer menschenwürdigere Gesellschaft aufzubauen“.

 

Sechstes Kapitel

 

Für ein neues Europa, Berufung und Aufbau, die Kirche dafür!

Beziehungen der Kirche zu den Staaten: „keine Rückkehr zu Formen eines Bekenntnisstaates. Gleichzeitig bedauert sie jede Art von ideologischem Laizismus oder feindseliger Trennung“.

 

 

III. Ohne das Naturrecht können wir die sittliche Kultur und Humanität in Europa nicht aufrecht halten.

 

Bei der Anwendung des Naturrechts brauchen wir dazu bessere Erkenntnis desselben durch das Licht des Evangeliums und die Einsicht darin vermittels der Erfahrung gemäß der sittlichen Natur des Menschen.

 

Der Weg von Johannes Messner aus den Existentiellen oder wesenseigenen Zwecken des Menschen zu einem Primären Kriterium der Sittlichkeit, um im modernen Dschungel der ethischen Systeme – es wird vom Pluralismus der Ethik einfach hin gesprochen – durch die verschiedenen Ansätze und vagen Vorstellungen von möglichen „sittlichen“ Ordnungen hindurch zu finden.

 

Ein früherer Mitarbeiter, DDr. Michael J. Schnarrer, bei einer Forschungsarbeit zu „Werk und Wirkungsgeschichte des österreichischen Naturrechtslehrers, Johannes Messner“, schließt eben eine dreijährige Mitarbeit an der NÖ. Landesakademie ab mit einem „Projekt zur Angewandten Ethik aus der Sicht des christlichen traditionellen Naturrechts“. Immer heißt doch zuerst die Frage, welche Ethik und Methode wird angewandt, welches Kriterium dient bei der Suche nach Wahrheit und Richtigkeit? Geht die Wissenschaft dabei vom Menschen in seiner ganzen Wirklichkeit als „Bild Gottes“ mit Wissen und Gewissen, mit Vernunft und menschlicher Natur aus mit Erfahrung des personalen Selbstbewußtseins, vom Leib-Sein und vom Geist-Seele-Sein - oder nur empirisch von der Beobachtung der Sinne und Instinkte des Menschen.

 

Auf dem Prüfstand stehen die Strömungen der Ethik von heute, die kein Sittengesetz aus dem Wesen des Menschen erkennen können, sondern nur Gedankenoperationen oder empirische Ansätze für das sittliche Urteil zu Hilfe nehmen, keine Öffnung der inneren Erfahrung zum Licht der Vernunft hin und zur natürlichen und übernatürlichen Offenbarung Gottes, zur Metaphysik des menschlichen Geistes und schließlich zum Evangelium kennen.

 

Nennen wir einige moderne Richtungen ethischer Strömungen heute, die keinen Beweis, kein Kriterium der Richtigkeit und Wahrheit kennen, nur Vorläufiges statt Wahrheit anbieten können:

Utilitarismus, Rationalismus, Relativismus kennzeichnet ihre Methode, Situationsethik ist die Folge. Zugleich wird dann diese Ethik als autonome Ethik propagiert, aus einem behaupteten philosophischen oder auch ungesicherten theologischen Gedankengang. Der Mensch soll doch frei sein von Bindungen an objektive Normen. Autonome Ethik, Analytische Ethik, Gefühls- oder Sympathieethik genügen.

 

Evolutionistische Ethiken von Soziologen, Psychologen, Biologen, Pädagogen in Verwendung empirischer Analysen und Daten von Menschen. Sie schließen das innere Wissen des Menschen um sein besseres Selbst aus. Es genügt eine Fülle von Teilerkenntnissen, um die Kultur- und die Lebensformen der Menschen heute, um Prognosen zu machen und Urteile zu begründen. Um so mehr folgt mit dem Verlust der Grundwerte im Ordnungsdenken dann Unsicherheit und Instabilität der gesellschaftlichen Institutionen.

 

Dabei finden sich „erstrangige Prinzipien“ (Johannes Messner, Das Naturrecht, S. 361) in der menschlichen Vernunft für die Sittenordnung, die auf das Sittengesetz hinweisen, im Naturrecht als menschliche Existenzordnung. Der Grundgedanke ist, „daß die Natur des Menschen mit den ihr eigenen Triebanlagen ihn zum Leben nach der Naturrechtsordnung und damit zur Einsicht in die dieser [d.i. der Natur!] eigenen Rechtsprinzipien drängt“ (S. o. zit. 345f).

Zuerst erfolge im sozialen Aufwachsen des Menschen (in der Familie) das Erfassen von einfachen Rechtsprinzipien, weiter komme es dann zu Seinseinsicht und folglich zum entwickelten Rechtsbewußtsein und der daran angeknüpften Rechtsordnung mit Sorge für das Wohl der Gemeinschaft als solcher.

 

Die dem Naturrecht als Seinsordnung angehörenden Grundprinzipien und Grundwerte sind daher natureigen, „allgemeinmenschlich und geschichtsunabhängiger Art: weder ist ihr Ursprung zurückzuführen auf die auf die Entwicklung aus einem vormenschlichen Zustand noch sind es in die menschliche Natur hinein gelesene Wertanschaungen der Gegenwart. Es sind vielmehr die ... in seiner Natur und seinem Naturgesetz begründeten Rechtsprinzipien und Wertprinzipien.“

 

Hier, und nur ab hier, kommen die neueren und neuesten Erkenntnisse der Humanwissenschaften zur Ethik bei der Anwendung des Naturrechts (!) für das Sittengesetz und die Rechtsordnung und seiner Entwicklung hinzu. Das betrifft auch die bessere Erkenntnis der Rechtsprinzipien nach der „Natur der Sache“ zu ihrer fortschrittlichen Bedeutung gemäß dem Rechtsbewußtsein in der jeweiligen Rechtsordnung und innerhalb der universellen Menschheit.

 

Johannes Messner spricht von zusätzlichen philosophischen Ansätzen und erfahrungswissenschaftlichen und juristischen Erkenntnissen für die Sitten- und Rechtsordnung im Sinne von sekundären Kriterien der Sittlichkeit; als Beispiel gilt vielfach das ius gentium in der Rechtsgeschichte, etwa die Entwicklung des privaten Eigentumsrechts, danach abgeleitet aus dem primären Naturrecht.

 

Das Naturrecht als Grundlage in Zusammenarbeit mit den betreffenden Erfahrungswissenschaften ist besonders für die Ausbildung der Ethik nach den Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik erforderlich!

 

Hier liegt das Neue, das Evolutionäre in der Sittlichkeit menschlicher Ordnungen, aber auch die Gefahr zur Verleitung romantischer Vorstellungen angesichts zeitlicher Bedürfnisse und Erwartungen vom Fortschritt in der Rechtskultur und der Rechtsreform. Ausgang ist immer vom Bewußtsein zu nehmen, für die Gesinnungsreform und dann für die Reform der Institutionen. Damit liegt die Bedeutung der Kath. Soziallehre vor Augen, die über in der sozialen Wesensnatur des Menschen begründete Sozialprinzipien den Ausgang ihrer Analysen und Reformvorschläge nimmt!

 

Im Einzelnen wird auf die Möglichkeit der Erkenntnis dieser Existenzordnung durch die „existentiellen Zwecke“ nach Johannes Messner ( Das Naturrecht, S. 42) verwiesen, als „Kriterium der Sittlichkeit“ (S. 48). Ihm folgend eine kurze Aufzählung:

 

Selbsterhaltung (geistig und körperlich),

Selbstvervollkommnung,

Ausweitung der Erfahrung und des Wissens,

Fortpflanzung,

wohlwollende Anteilnahme,

gesellschaftliche Verbindung,

Streben nach Erkenntnis der Stellung des Menschen in der Welt

und nach seiner endgültigen Bestimmung (religiöse Transzendenzfrage).

 

 

Zum Abschluß

 

Ein Wort der Hoffnung von einem christlichen Politiker in Niederösterreich:

„Der Glaube hilft nicht nur mir, gerade in Zeiten, in denen die Technik den Eindruck erweckt, als wären die Menschen bereits die Übergötter auf Erden. Es ist wichtig, sich selbst zurück zu nehmen und die menschlichen Grenzen zu erkennen. ... Wir kommen gerade jetzt in eine Phase der Entwicklung unseres Kontinents, in der es wichtig ist, seinen Glauben und sein Bekenntnis zur Kirche zu betonen, weil ich schon gerne hätte, daß dieses große Europa auch ein christliches Europa sein wird ... Was 1989 geschah war sicher viel mehr, als sich in der Politik bewegen läßt. Auch das künftige Europa soll ein christliches sein! Denn es sind die Konsequenzen der christlichen Soziallehre, die es möglich machen, ein menschenwürdiges Leben auf breitester Ebene zu gewährleisten. Die Politik bietet gute Möglichkeit seinen Glauben einzubringen, indem man sozial Schwächeren wirkungsvoll hilft.“ (LH. Dr. Erwin Pröll Interview in „Radio Maria“ aus Anlaß des Festes des Landespatrons, des hl. Leopold, Kathpress vom 20. 11. 2003)

 

Im Anhang: einige Zitate aus „Ecclesia in Europa

 

Einleitung:

„Die Zeit, in der wir leben“: Verlust des christlichen Erbes, Überhandnahme des Säkularismus und Ausbreitung des Individualismus. = Verlust der Hoffnung? Nihilismus im philosophischen Bereich, Relativismus, Verlust der Wahrheit, Kultur des Todes? (Nr. 7 – 9)

Erstes Kapitel

„In Europa, und zwar in den postkommunistischen Ländern ebenso wie im Westen, kommt der Pfarrei ... zu ... ein Ort echter Humanisierung und Sozialisierung zu sein.“

„...mit der Ausbreitung des Individualismus ist eine zunehmende Schwächung der Solidarität zwischen den Menschen festzustellen ... Der Verlust der Hoffnung hat seinen Grund in dem Versuch, eine Anthropologie ohne Gott und ohne Christus durchzusetzen,...den Menschen als absoluten Mittelpunkt allen Seins zu betrachten ... Verlust der Wahrheit von Menschen als Fundament der unveräußerlichen Rechte eines jeden .... eine „Kultur des Todes“...

„Diese (cs. christlichen) Wurzeln haben die Unterordnung der politischen Macht unter das Gesetz und unter die Achtung der Rechte der Person und der Völker begünstigt. Hier gilt es den Geist des antiken Griechenland und der römischen Welt, an die Beiträge der keltischen, germanischen, slawischen, finnisch-ugrischen Völker, der jüdischen Kultur und der islamischen Welt zu erinnern. Man muß allerdings erkennen, daß diese Inspirationen historisch in der jüdisch-christlichen Tradition eine Kraft gefunden haben...“

2. Kapitel :

„Das Evangelium der Hoffnung - der Kirche des neuen Jahrtausends anvertraut“

„Der Herr ruft zur Umkehr, Voranschreiten in Richtung auf die Einheit der Christen“ das ist ein wichtiger Beitrag zur Einheit Europas! (Nr. 30)

„Die ganze Kirche wird in die Mission entsandt“. Die Geistlichen – Priester, sind aufgrund des Weihesakramentes im Amt! (Nr. 34), Zölibat, ihre angemessene Lebensform, daher Hochschätzung, Pastoral der Berufungen wichtig (Nr. 39) – ethische Frage um Berufung und Stand und Lebensform im Volk und in der Familie, ebenso für Beamte, Funktionäre, Politiker ganz allgemein! – „Laien“ im Volk Gottes - ihre Berufung, die soziale Kultur in der Gesellschaft ganz allgemein, die Soziallehre und spirituelle Bildung (Bezug auf Heiligkeit) für gesellschaftlichen Einsatz/Ehrenamt (Nr. 41) – Rolle der Frau! (Nr. 42)

3. Kapitel

„Das Evangelium der Hoffnung verkündigen“

„Das Geheimnis Christi verkündigen“ verleiht der Geschichte Sinn, darum erneut Verkündiger in Treue zum Evangelium: glaubwürdig, gut ausgebildet, also persönlich und gemeinschaftlich in Europa (Nr. 49) – Person- und Gesellschaftsbegriff (Sozialprinzipien!).

Dialog mit anderen Religionen (Judentum und Islam, Nr. 55), Religionsfreiheit in Europa und anderen Ländern, wo Christen in der Minderheit sind, ist nötig.

Inkulturation des Evangeliums im gesellschaftlichen Leben erfordert christliche Anthropologie, Achtung auf „Unzulänglichkeit und Unangemessenheit einer vom Szientismus inspirierten Auffassung ..., die einzig und allein dem experimentellen Wissen objektive Gültigkeit zuerkennen will, und zudem die sittlichen Kriterien anbieten, die der Mensch als in seine Natur eingeschrieben besitzt.“

Dienst der katholischen Schulen im Evangelisierungsprozeß, christlicher Humanismus, Kunst: das Schöne ist „Schlüssel zum Mysterium“ (Nr. 59).

Aufmerksamkeit für die Massenmedien: Dienst an der Wahrheit, an der Gerechtigkeit und den menschlichen, kulturellen und geistigen Werten; Suche nach Gemeinwohl oder Überwiegen rein wirtschaftlicher Kriterien ...(Nr. 63).

4. Kapitel:

 „Das Evangelium der Hoffnung feiern“

Gerade der Ausdruck christlichen Lebens in Gebet, Liturgie, Spiritualität, Sakramenten, Volksfrömmigkeit, Wallfahrten (Nr. 66ff) und im Tag des Herrn, sind „Dimensionen des Feierns“ (Nr. 82) Die Inspiration durch Soziallehre der Kirche zum Zusammenleben in Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit und Solidarität, die Warnung vor „Utopie der ‚Freiheit ohne Wahrheit‘“.

 

5. Kapitel

„Die Soziallehre der Kirche ist durch ihre innere Verbindung mit der Würde der Person so beschaffen, daß sie auch von denen verstanden wird, die nicht der Gemeinschaft der Gläubigen angehören. Es ist dringend notwendig, die Kenntnis von ihr und ihr Studium zu verbreiten und so die unter den Christen herrschende Unwissenheit über sie zu überwinden.“

6. Kapitel :

„Das Evangelium Hoffnung für ein neues Europa“

„Die geistige Berufung Europas – Förderung der universellen Werte“ unter den Völkern und Kulturen und der integralen Förderung des Menschen und seiner Rechte (Nr. 108) werden Grund gelegt in der transzendenten Würde der menschlichen Person, im Wert der Vernunft, der Freiheit, der Demokratie, des Rechtsstaates, der Unterscheidung zwischen Politik und Religion. Der "Aufbau Europas" braucht sichere Grundlegung im Christentum.

 

Schluß:

Blick auf Maria

 

 


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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 12.12.2003.

 

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