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Diözesanbischof Dr. Kurt Krenn von St. Pölten

 

Hirtenbrief zur Fastenzeit 1995

 

Teil I


Liebe Gläubige,  hochwürdige Mitbrüder!

1. Nur Gast sind wir auf Erden. Dennoch gehört uns diese Welt in der Zeitspanne jenes irdischen Lebens, das Gott uns schenkt. Wir leben nicht zufällig; unser Leben hat seinen Ursprung aus Gottes Willen; in Gott hat unser Leben auch sein Ziel. Gott "will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2,4). Mit jedem Menschen steht für Gott viel auf dem Spiel. Wenn Gott will, daß jeder Mensch gerettet wird, kann niemand unbetroffen abseits stehen oder an seinem Seelenheil uninteressiert sein. So kann am Ende unseres Lebens in Gottes Gericht es nur heißen: gerettet oder nicht gerettet, gerettet oder verworfen.

2. Wer in die Fastenzeit, in die Österliche Bußzeit eintritt, braucht diese Einsicht: Gott hat mich als Menschen geschaffen; Gott will, daß ich gerettet werde. Weil ich Mensch bin, entscheidet sich in meinem persönlichen Sein und Tun das Gelingen der Absicht Gottes. Was vom göttlichen Lebensentwurf dem Menschen mißlingt, ist nicht einfach Mißgeschick. Unser Abweichen von Gottes Plan ist Sünde, die uns in Widerspruch zu dem setzt, was wir sein sollen.

Es gibt aber die Umkehr zu Gott, d.h. die Bekehrung des Sünders. Niemals ist es zu spät, solange wir hier auf Erden leben; das soll jedoch nicht Vorwand zur Sorglosigkeit und zur Fortsetzung unserer Untreue sein. Der Prophet Jesaja mahnt: "Sucht den Herrn, solange ihr ihn finden könnt, ruft ihn an, solange er nahe ist. Der Übeltäter soll seinen Weg verlassen, der Böse gebe seine Pläne auf. Er kehre zum Herrn zurück, ... denn Gott ist groß im Verzeihen" (55,6 f.).

3. Was die Menschen heute meinen, wenn sie "Leben" sagen, reicht bei weitem nicht aus, um jenes Leben zu beschreiben und zu begreifen, das Jesus selbst gibt; das Leben uns in Fülle zu geben, ist Jesus gekommen (vgl. Joh 10,10). Das Leben des Menschen ist etwas Heiliges und Unantastbares. Niemals und unter keinen Umständen ist es erlaubt, einem unschuldigen Menschen das leibliche Leben zu nehmen; damit schützt Gott das Leben des ungeborenen Kindes genauso unbedingt wie das Leben des behinderten, des alten, des kranken Menschen.

Es ist aber auch niemals erlaubt, die Seele, den Geist, die Freiheit und das Gewissen eines Menschen zu verderben. Christus selbst sagt über die Verführung zur Sünde: "Wer einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zu Bösem verleitet, für den wäre es besser, wenn man ihn mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenken würde" (Mt 18,6). Auch die Verführung zum Bösen ist ein Anschlag auf das Leben des Menschen; denn das Böse im Menschen würde ein Leben bedingen, das in Feindschaft mit Gott steht, der der Urheber des Lebens ist.

4. Viel unternimmt der heutige Mensch, um sein Leben lange zu erhalten und gesund zu bleiben: Er treibt Sport, er achtet auf seine Ernährung, er kontrolliert seine Gesundheitswerte und lebt nach dem Grundsatz "Hauptsache gesund". Dagegen hat auch Gott nichts einzuwenden.

Die Frage ist jedoch, ob die Gesundheit des Leibes der einzige Wert ist, der für unser Leben entscheidend ist. In unserem Leben ereignet sich doch viel mehr: Unser Denken, Forschen, Wissen ist eine Sache des Lebens; Freiheit erfahren wir im Leben; unsere Liebe und Hoffnung brauchen das Leben; ohne Leben können sich Schönheit und Gutes nicht kundtun; ohne Leben sind wir ohne Beziehung zu den Menschen und zur Welt; ohne Leben können wir nicht leiden und tragen. Gottes Liebe ginge ins Leere, wenn Gott keinen lebenden Menschen hätte. Zwischen dem Leben des Menschen und der Liebe Gottes besteht eine unlösbare Verbindung. Gott schuldet es seiner Liebe, daß wir Menschen leben; Gott schuldet es seiner ewigen Liebe, daß wir Menschen ewig leben. Der Glaube an das ewige Leben ist nichts anderes als der Glaube an die Liebe Gottes, die erfüllt, was sie ist: Liebe und nichts als Liebe. Jesus selbst bezeugt, daß Gott nicht der Gott der Toten, sondern der Gott der Lebenden ist (vgl. Mt 22,32).

5. Der heutige Mensch fürchtet das Sterben und flieht vor dem Tod, denn er hält nur das für sein Leben, was ihm in seinem Leib und in seinen Sinnen erfahrbar ist. Wie eng und armselig denken wir über unser Leben, das uns vielfältig Mensch sein läßt und darüber hinaus der ewige Bezugspunkt der Liebe Gottes zum Menschen ist. Auch das Heil des Menschen gelingt nur durch Leben und ist viel mehr als eine bestandene Abrechnung mit Gott.

Das Leben des Menschen ist eines und unteilbar; es ist das eine Leben, in das uns Gott ruft, wenn unser Leben im Schoß der Mutter beginnt; es ist dasselbe Leben, das wir zeitlich in der Welt gestalten und dessen wir uns freuen dürfen; es ist dasselbe Leben, das uns in die Ewigkeit hinausträgt, wenn wir nach bestandener Bewährung Gott ähnlich sein und wir ihn sehen werden wie er ist (vgl. 1 Joh 3,2).

6. So ist die Buß- und Fastenzeit mit ihren Opfern und Überwindungen die Entdeckung jenes wahren Lebens, das wir in seiner Fülle gewinnen, weil wir es um Christi willen einsetzen. Wie eng und armselig ist ein Leben, das nur dem Konsum und dem Genießen, nur der Habgier und der Maßlosigkeit, nur der Oberflächlichkeit und dem Egoismus, nur dem Vergänglichen und nicht dem Unvergänglichen sich widmet. Wenn wir also um Christi willen in dieser heiligen Bußzeit fasten und verzichten, wenn wir Wohltaten setzen, der Sünde entsagen, inständig beten und die Gebote Gottes halten, entdecken wir unser Leben in Fülle, das viel mehr ist als der wohl fehlschlagende Genuß des Augenblicks.

Es seien alle Christen daran erinnert, was in der Fastenzeit ein sicherer Weg zur Fülle des Lebens ist: der gewissenhafte Besuch der Sonnntagsmesse und die ehrfürchtige Feier der Liturgie; die würdige Osterbeichte; die heiligen Tage des Fastens und Verzichtens; das persönliche Gebet und die Vertiefung in das Geheimnis Christi und seiner Kirche. Dies alles wird die Gläubigen unserer Diözese auch im Wohlwollen gegenüber der Not der Menschen bestärken. Heute schon danke ich im Namen vieler Notleidender den unzähligen Frauen, Männern und Jugendlichen, die die jährliche Fastenaktion unserer Diözese durch ihren Beitrag zu einem großen Ereignis der Nächstenliebe und der Nächstenhilfe werden lassen. Geben ist seliger als Nehmen; was wir um Christi willen hingeben, werden wir gewinnen: auch dieses Gewinnen durch Geben gehört zum Glück des Lebens in Fülle.

7. Das Leben ist keine Ware, die wir kaufen könnten. Im Leben sagt sich der Mensch in aller Konkretheit, aber auch in aller Gemeinschaftlichkeit aus. Es gibt kein Leben im allgemeinen; es gibt nur den lebendigen Menschen und den lebendigen Gott. In diesem Verhältnis des Lebens zwischen Gott und Mensch ruht alle Wirklichkeit; nur in diesem Verhältnis gewinnen Wissen und Weisheit, Tugend und Gebet, Schönheit und Wahrheit, Gutes und Gottgefälliges, Natur und Gnade, Gemeinschaft und Person ihre Gestalt als Fülle des Lebens.

8. Das Leben des Menschen ist ein anderes als das Leben der Tiere und Pflanzen; was den Menschen darüber erhebt, ist die Geistseele mit ihren Fähigkeiten der Vernunft und des freien Willens. Wir können es noch begründeter sagen: Was den Menschen über die bloßen Lebewesen erhebt, ist die Gottesfähigkeit des Menschen. Wer zur Gotteserkenntnis und zur Gottesliebe befähigt ist, der bleibt wohl ein endliches Geschöpf, hat aber Anteil an der Grenzenlosigkeit Gottes, da er den unendlichen Gott selbst erkennen und lieben darf.

Unser Leben ist ein dramatisches Geheimnis; es wäre Schall und Rauch, wenn es nur aus ein paar irdischen Lebensjahren bestünde. Dieses kurze Leben aber ist so ernst, weil darin alles gelebt werden muß, was im ewigen Leben sich uns eröffnet. Laßt uns das Leben wählen, damit wir in Fülle leben. Laßt uns Gott lieben, hören wir auf seine Stimme und halten wir uns an ihm fest, denn er ist unser Leben (vgl. Dtn 30,19 f.).

Unser Leben ist Leben in Fülle, wenn Gottes Gegenwart in uns wirkt und wir uns in Gott jenseits der verrinnenden Zeit erkennen: in unserer moralischen Verantwortung, in unserem recht gebildeten Gewissen, in unserer unwiderruflichen Treue und in der Liebe, die niemals aufhört.

9. Es ist heute auch bei Christen Mode geworden, jede Situation jeweils anders zu beurteilen; es soll kein allgemeines Maß mehr gelten, denn jedesmal anders wollen wir über Gut und Böse urteilen. Wenn wir nicht aus der Gegenwart Gottes heraus entscheiden, dann ist heute gut, was gestern noch als böse galt, dann ist heute Pflicht, was morgen verachtet wird, dann ist morgen Irrtum, was heute noch Wahrheit ist.

In Gottes Angesicht und Gegenwart zu leben verlangt viel mehr als nur Gefühle. Dazu gehört die kritische Einsicht, daß wir Gott nicht betrügen können; das schützt uns auch vor Selbstbetrug. Viele Probleme gibt es, weil wir vor der Wahrheit Gottes, die überall gegenwärtig und geltend ist, auf der Flucht sind. Wir flüchten in selbstgemachte Ausreden und betrügen uns selbst und die Mitmenschen. Nicht selten flüchten wir unter dem Schein von Liebe und Menschenfreundlichkeit in das, was vor Gott nicht bestehen kann.

10. Dies ist heute das Problem, wenn nicht mehr verstanden wird, daß nur im Stand der Gnade die heilige Kommunion würdig empfangen werden kann. In Gottes Angesicht werden wir auch nicht wagen, den Leib Christi in der Eucharistie zu verlangen, wenn wir in einem objektiven und dauernden Widerspruch zum Gesetz Christi stehen.

Dies soll auch das helfende Wort an unsere wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen sein: Vor Gottes Angesicht wurde der sakramentale Ehebund geschlossen; in Gottes Angesicht mögen alle jenen Weg suchen, der vor Gott bestehen kann, auch wenn dieser vorerst nur der Verzicht auf den Empfang der heiligen Kommunion ist.

Ich will auch alle Priester daran erinnern: Was vor dem Gesetz Gottes nicht bestehen kann, das kann nicht Heil und Gnade bringen, das kann auch nicht dem Willen unseres Guten Hirten entsprechen, der die Unauflöslichkeit der Ehe für immer festgesetzt hat. Auch jede pastorale Mühe muß sich in Gottes Angesicht rechtfertigen und das Gut der unauflöslichen Ehe schützen. Wir wollen die betroffenen Gläubigen immer der Barmherzigkeit Gottes empfehlen, wir müssen aber auch die bestehenden Ehen, die Familien, die Kinder und die unschuldig Getroffenen die Wege Gottes lehren und sie schützen.

11. Die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, welcher öffentliche Druck auf die Kirche ausgeübt wird, um sie zur Untreue gegenüber Christus zu nötigen und ihre Stimme zum Schweigen zu bringen. Wir werden in unserer Diözese in der Ehe- und Familienpastoral den Weg der Treue zu Christus gehen, wie er vom Nachfolger des Petrus und vom Glauben der Kirche gelehrt wird. Wir vertrauen auf die Gottesfurcht und Treue unserer Priester und des ganzen Volkes Gottes.

 

Teil II

 

12. Die Stunde ist schon da, in der in allgemeiner Verwirrung der sittlichen Urteile nach einer Kirche gerufen wird, die Gott treu ist und in mutiger Geduld die Sache Gottes und des erlösten Menschen vertritt. Als die Apostel vor dem Hohen Rat standen und ihnen der Hohepriester verbot, im Namen Jesu zu lehren, antworteten Petrus und die Apostel: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen (vgl. Apg 5,29). Dieser größere Gehorsam gegenüber Gott ist die Würde der Zeugen Jesu Christi.

13. Dies muß auch der Grundsatz der bürgerlichen Verantwortung in unserem Staat sein, die dem Gemeinwohl der Menschen verpflichtet ist. Es ist unsere Christenpflicht, auch unsererseits für das Gemeinwohl Opfer zu bringen; die Kunst der Politik muß es sein, die angemessene Gerechtigkeit zu finden. Nur vor Gott hat der Mensch sich zu beugen; stehen und bestehen müssen wir gegen den drohenden Sympathieentzug, gegen das Verwirrspiel von Umfragen, von Bekanntheitsgraden und Beliebtheitswerten. Auch wenn heute behauptet wird, daß politisch nichts mehr geht, wird schließlich dennoch gelten, daß den Treuen die Bürger treu sein werden.

Der Egoismus der Menschen, die Macht zum Drohen haben, ist wahrhaftig oft beschämend und kein Vorbild für rechte Entscheidungen. Die Geschwindigkeit mancher europäischer Entwicklung ängstigt und verwirrt betroffene und in ihren Sorgen allein gelassene Menschen. Es ist Mode unter Christen geworden, von Ausgegrenzten und Benachteiligten zu reden; aber wo bleiben die Taten der Solidarität? Wir Katholiken schulden in dieser ungewissen Situation Solidarität besonders unseren Bauern, ihren Familien und ihrer Existenzsicherung. Ohne den von Landwirten gestalteten ländlichen Raum wird vieles Schaden in unserem Land nehmen. Wir schulden unsere Solidarität gleichfalls den stillen Armen und Darbenden, wo immer diese in Familien, bei älteren Menschen, bei Kranken und Behinderten oder Flüchtlingen sich finden. Solidarität ist dann wahrhaftig, wenn sie anderen auch zum Vorteil sein kann, selbst wenn sie uns belastet.

 

14. Weltweite Solidarität ist etwas anderes als nur ein Austausch von Leistung und Gegenleistung. Solidarität unter den Menschen braucht die Berufung auf Gott, der uns verpflichtet, auch denen zu helfen, die uns vielleicht nicht helfen können. Die großen Probleme der Welt sind ohne Berufung auf Gott nicht lösbar, da die Anliegen Frieden, gerechte Güterverteilung, Menschenwürde, Menschenrechte und Freiheit nach bloß menschlicher Verrechnung von Leistung und Gegenleistung in den engen Grenzen unseres Egoismus scheitern.

15. Auch unsere ganz persönliche Lebensentfaltung muß auf Gott als Ziel sich berufen und mit Gottes Willen übereinstimmen. Jeder Mensch ist für Gott so viel wert, daß Gott alles, was er in Schöpfung und Erlösung wirkt, auch für einen einzigen Menschen tun würde. Schon ein einziger Mensch kann der empfangende Inbegriff aller Güte und Weisheit Gottes sein. Schon in einem einzigen Menschen kann Gottes volle Größe und Gnade erstrahlen.

16. Kein Mensch darf einen anderen Menschen als Mittel benützen, ihn ausbeuten oder seinen Interessen unterwerfen. Wer in sich selbst der gottgeschenkten Würde innegeworden ist, der wird sich nicht wie ein wildes Tier oder wie ein selbstherrlicher Egoist gebärden. Wer die Größe seiner eigenen gottgeschenkten Würde wahrhaft kennt, der wird Ehrfurcht vor dem Nächsten und Wohlwollen für ihn haben; Ehrfurcht und Wohlwollen sind die Weisen jener Liebe, die sich uneingeschränkt darüber freut, daß es den Nächsten gibt. So wird das beste soziale Verhalten nicht erst aus den täglichen Konflikten gelernt. Das beste soziale Verhalten begreift der Mensch in Dankbarkeit darüber, daß er selbst eine unübertreffliche Würde hat, die ihn zu nichts anderem als zur Liebe anhält, zur Liebe gegenüber Gott und gegenüber dem Nächsten. Die Liebe entspringt einer Fülle und nicht einem Mangel. Was menschliches Begehren ist, deutet auf einen Mangel hin, was hingegen Ehrfurcht und Wohlwollen ist, kommt aus der dankbar empfangenen Fülle.

17. Je besser der Mensch in seiner Wahrheit und Würde sich begreift, desto sozialer handelt und lebt er. In der begriffenen Fülle des gottgeschenkten Menschseins gibt es keinen Platz für Neid, Haß, Verächtlichmachung, Eifersucht, Gewalt, Ausbeutung, Verführung, Stolz und Krieg. Denn die Liebe prahlt nicht, trägt das Böse nicht nach, freut sich nicht über das Unrecht, freut sich mit der Wahrheit, hält allem stand.

Je mehr wir in unserer gottfernen Welt die Wege zu Frieden, Gerechtigkeit und Menschlichkeit suchen müssen, desto mehr müssen wir davon ausgehen, daß der Mensch ohne Gott ein verlorenes Wesen wäre, auf dem keine Ordnung und keine Zukunft zu errichten ist. Es gehört heute viel Mühe und Mut dazu, Gott im Menschen und in der Welt Geltung zu verschaffen. Vor der Selbstzerstörung jedoch kann nur Gott den Menschen bewahren. Nur Gott kann uns von der Sünde befreien, uns erlösen und in der Wahrheit des Menschen erneuern. Nur Gott kann unsere Seele retten, die er erschaffen hat und durch die er uns Menschen zu seinem Abbild erhebt.

18. Dies sind die Kriterien jener Scheidung der Geister, die heute längst in Gange ist. Keiner ist davon ausgenommen. Jesus nennt den Teufel "einen Mörder von Anfang" und den "Vater der Lüge" (vgl. Joh 8,44). An Schrecken und Grauen haben wir uns gewöhnt; die schlimmsten Verbrechen sind der Stoff, aus denen Unterhaltung geboten wird. In Momenten der Besinnung fragen wir uns, warum so viel Böses geschieht, obwohl fast alle Menschen sich für anständig, freundlich, normal und gut halten.

Schon am Anfang war es die Lüge, mit der Adam und Eva zur Sünde verführt wurden. Heute noch ist die Lüge der Boden der Sünde, denn selbst die schlimmste Tat sucht den Schein der Rechtfertigung. Auch Jesus sagt den Jüngern voraus: "Es kommt die Stunde, in der alle, die euch töten, meinen, Gott einen heiligen Dienst zu erweisen" (Joh 16,2).

19. Auch in das Gewissen des Menschen kann sich die Lüge einschleichen, wenn wir Gottes Wort nicht hören und wir die Wahrheit des Glaubens nicht gelten lassen. Lüge und Verführung sind nicht nur der Anfang der Sünde, sondern auch die Hartnäckigkeit jener Verblendung, die uns Sünde und Schuld nicht einmal erfassen läßt. Aber dagegen steht die Verheißung Jesu: "Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger. Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" (Joh 8,31 f.). Wie notwendig sind die Zeugen der Wahrheit Christi. Wir müssen uns von Christus senden lassen und die Menschen alles befolgen lehren, was er uns geboten hat. Und Jesus warnt seine Jünger: "Wehe euch, wenn euch alle loben; denn ebenso haben ihre Väter die falschen Propheten behandelt" (Lk 6,26).

Lassen wir uns von Jesus warnen. Der allgemeine Applaus ist weder ein Kennzeichen der Wahrheit noch ein Ersatz für Wahrheit. Gott sei Dank gibt es heute Gläubige und Priester, die gegen das Böse und die Sünde aufstehen und widerstehen mit den Apostelworten: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 5,29). Wie schwer ist das Zeugnis der Reinheit von jungen Christen, wie zermürbend der Widerstand gegen Abtreibung und Pornographie; wie hart ist es, die Gebote Gottes zu bezeugen, wenn die Menschen alles unter sich aushandeln wollen; welch geistige und seelische Größe gehört dazu, Treue zu halten und Treue zu lehren; wie sehr stört die Kirche das Urteilen der Selbstherrlichen, wenn sie dem Gesetz Christi die Treue hält.

20. Es war zu allen Zeiten für die Kirche mühsam, die Menschen zur Bekehrung und zum Heil einzuladen. Was unsere Zeit darüber hinaus mühsam macht, ist die Tatsache, daß Christen oft mangels Demut und mangels Liebe zur Kirche in die Öffentlichkeit flüchten, um sich Gewalt für ihre kleinlichen Probleme und Aufmerksamkeit für ihre Vorlieben zu verschaffen. Wie wichtig oder nichtig eine Sache ist, bestimmen heute oft nur jene, die Massenmedien haben, um allen etwas mitzuteilen.

Das Prinzip Gerechtigkeit muß auch im Bereich der Informationsmedien entwickelt und gesichert werden. Die Freiheit der Meinung und der Information wird zur Einseitigkeit und Willkür, wenn die Betroffenen, die Beurteilten und die Beschädigten nicht das Recht und die Gelegenheit haben, angemessen zu antworten, zu widersprechen und zu berichtigen. Nicht nur bei sozialen und materiellen Gütern geht es um gerechte Verteilung. Die Medienwelt ist ohne ein wirksames Prinzip der Gerechtigkeit nicht mehr menschenwürdig zu ordnen. Wir beobachten eine Entwicklung, deren Bewältigung genauso dringlich ist wie einst die soziale Frage. Auch die Kirche braucht für ihre Präsenz in der Welt und für den Austausch der geistigen Güter eine verbindlich wirksame Gerechtigkeit, um in den Medien sich selbst darzustellen und ihre Sendung zu erfüllen.

21. Liebe Brüder und Schwestern, liebe Mitbrüder!

Feiert ein heiliges Fasten, das euch heiligt. Tut das Gute, meidet die Sünde, versöhnt euch im Bußsakrament mit Gott. Seid mutig in eurer Berufung, in die euch Gott gestellt hat. Fürchtet euch nicht vor den Mühen des Christseins und nicht vor dem Ernst des gottesfürchtigen Menschseins. Eure Liebe sei Treue, eure Kraft sei die Geduld. Euer Gebet finde die Begegnung mit Gott; betet den Rosenkranz und den Kreuzweg. Folgt dem Vorbild der allzeit getreuen Gottesmutter und empfehlt euch und eure Familien und besonders die Jugend ihrer Fürsprache. Betet für den Heiligen Vater, für unsere Diözese und auch für mich. Gott schenke jedem das Leben in Fülle, in dem sich alles vollenden möge, was Gottes Güte und Gnade uns zugedacht hat.

Es segne und behüte euch der allmächtige Gott: der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

+ Kurt Krenn

Diözesanbischof 
 
St.Pölten, Aschermittwoch, 1. März 1995


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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 30.11.1997.

 

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