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Diözesanbischof Dr. Kurt Krenn von St. Pölten

Die Gottesfrage im Zusammenwirken
von Vernunft und Entscheidung des Menschen

in: Festschrift "150 Jahre Österreichische Bischofskonferenz 1849-1999", S. 147-160,
herausgegeben vom Sekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz, Wien 1999, ISBN 3-9500963-1-0
Vertrieb: Sekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz 1010 Wien, Wollzeile 2

In der Frage nach der Möglichkeit einer vernunfthaften und natürlichen Gotteserkenntnis hat Thomas von Aquin der Metaphysik den notwendigen Platz in der katholischen Theologie gesichert. Es muß daher in diesem Beitrag sehr grundsätzlich über das Verhältnis der Metaphysik zu anderen Wissenschaften und über die Metaphysik als die vernünftige Gewißheit der Wirklichkeit des Transzendenten gesprochen werden.

1. In der Frage "Existiert Gott?" verwenden wir viel Selbstverständliches: Jeder meint zumindest in seinem Herzen zu wissen, was Gott bedeutet; jeder meint damit etwas Höchstes, Größtes, Erhabenstes, Überragendes, Mächtigstes und zugleich irgendwie Unsagbares oder vielleicht sogar Unvorstellbares. Schließlich scheint uns auch das Wort "existieren" so selbstverständlich zu sein, daß wir überhaupt nicht mehr antworten können oder wollen, wenn jemand wissen möchte, was das Existieren eigentlich ist. Man verweist an den Wirklichkeitssinn des Menschen, der längst darin verständigt ist, was das Existieren bedeuten soll.

In den früheren Zeiten konnte man sich sogar auf die Formel verständigen: Wenn es Gott gibt, dann muß es Gott notwendig geben. Thomas von Aquin war sich mit dieser Formel klar, daß ein Höchstes und Größtes alle Notwendigkeit zum Dasein in sich selbst hat, daß Gott ein anderes Dasein hat als alle übrigen Seienden, die es wohl geben mag, die jedoch nicht notwendig da sind, d.h. die es geben kann, die jedoch auch nicht da sein können. Das heutige Denken hat sich jedoch nicht in dieser Richtung weiterentwickelt. Man braucht heutzutage das Wort "Gott" nicht einmal zu vermeiden, man kann heute wissenschaftlich auf verschiedene Weise von Gott reden und dabei dennoch die Existenz Gottes ausklammern oder gar in Abrede stellen.

2. Viele werden sich daran erinnern, daß es vor etwa drei Jahrzehnten die große theologische Mode war, eine Gott-ist-tot-Theologie zu betreiben. Gott wurde damals als die große entfremdende Irrform des menschlichen Denkens, des religiösen Verhaltens, der sozialen Beziehungen und des sprachlichen Aufkommens angesehen. Man sagte, daß Gott tot ist, und meinte damit den Versuch einer Befreiung des Menschen von Metaphysik, von Herrschaft, von Unterdrückung und von ideologieverfälschter Rede. Gott wurde im Grunde als eine einzige Verfremdung des Menschen von sich selbst deklariert, der man zuweilen dadurch beizukommen trachtete, daß man sogar in der Theologie auf das Wort "Gott" verzichten zu müssen glaubte.

Die Gott-ist-tot-Mode ist inzwischen weithin abgeklungen. Dennoch ist die wirkliche Wirklichkeit Gottes auch heute noch das größte Problem der Theologie. Die Theologie hat sich in ihrem Selbstverständnis - im Gegensatz zu früherer von der Metaphysik bestimmter Theologie - einer neuen Konzeption von Wissenschaftlichkeit angeschlossen; die heutige Theologie wendet sich ihrem Gegenstand so zu, wie er sich uns zeigt, und betrachtet nicht mehr ihren Gegenstand, wie er "an sich" ist. Man kann daher in der Theologie von Gott reden, wie er vom religiösen Menschen erfahren wird, man kann von Gott reden, wie er von der Schrift vorgestellt wird, man kann von Gott reden, wie er im theologischen und dogmatischen Verstehen der Kirche in seinem Bild entfaltet wird, man kann von Gott reden, wie er eine kulturelle, soziale, moralische Größe in der Entfaltung des Menschen ist. Nicht umsonst wurde das gängige Wort der Rede von Gott geprägt.

3. Gleichbleibend ist in all den Aussagen der heutigen Theologie von Gott jene Zwischenschaltung des Bereichs, in dem der Mensch, die Schrift, die Kultur usw. mit einer Größe namens Gott umgehen; der eigentliche Gegenstand der Theologie ist dabei jedoch nicht Gott, sondern das, was sich in Kirche, Theologie, Kultur, religiöser Erfahrung usw. als Gott ausgibt. Gott ist nur Gegenstand der Theologie, sofern er benützt wird und in erfahrbaren Formen von Kultur, Literatur, Psychologie, Soziologie, Religiosität als ein Moment des Menschen und für den Menschen auftritt. Man kann heute vielfältig Theologie treiben, in der von Gott die Rede ist; im strengen Sinn steht jedoch dabei Gott selbst und Gott an sich überhaupt nicht zur Diskussion. Von Gott zu reden, bedeutet noch lange nicht, daß damit die Existenz Gottes selbst behauptet wird; behauptet wird lediglich, daß eine Größe, der man den Namen Gott gibt, in vielen menschlichen Bereichen in spezifischen Phänomenen festgestellt werden kann. In dieser positivistischen Konzeption von Theologie ist nicht Gott an sich, sondern letztlich unsere menschliche erfahrbare Wirklichkeit der Gegenstand der Theologie.

Damit kann in der heutigen Theologie schließlich sogar die Frage der Existenz Gottes ausgeklammert werden; mehr noch: die Methode solcher Theologie ist gar nicht in der Lage, überhaupt nach der Existenz Gottes zu fragen. Hier mag sich ohne weiteres der Protest regen, daß mit der heutigen Theologie hart und ungerecht verfahren wird. Unterscheiden tut in so schwerwiegenden Dingen not: Es wird kaum eine Form heutiger Theologie geben, die unmittelbar Gottes Existenz bestreiten möchte oder die auch nur Zweifel oder Abstinenz an der Frage der Existenz Gottes pflegen möchte. Es ist aber gerade das der Theologie unbewußt und unreflektiert zugewachsene Wissenschaftsverständnis, das in seiner Methode und in seiner Gegenstandswahl zu einer eher positivistischen Wissenschaft führt und die Theologie für die Gottesfrage unkompetent macht.

4. Ich möchte behaupten, daß sich die Theologie durch die Option ihres Wissenschaftsverständnisses jene Denkart hat aufdrängen lassen, die für den Gottesglauben bislang die schwierigste Herausforderung geblieben ist. Formuliert wurde diese Herausforderung durch Ludwig Feuerbachs Religionskritik, die Theologie mit der Philosophie identifiziert, Gott auf den Menschen reduziert und die Philosophie auf die Anthropologie. Feuerbach sieht die "Aufgabe der neueren Zeit" darin: "die Verwirklichung und die Vermenschlichung Gottes - die Verwandlung und Auflösung der Theologie in die Anthropologie" (Grundsätze der Philosophie der Zukunft. 1843, S. 245). Wie kommt es für Feuerbach zum Gottesbegriff? Dazu kommt es so: Der Mensch stellt sein menschliches Wesen aus sich heraus, er sieht es als etwas außer sich Existierendes und von sich selbst Getrenntes; er projiziert es so als selbständige Gestalt gleichsam an den Himmel, nennt es Gott und betet es an. Der Gottesbegriff ist gar nichts anderes als eine Projektion des Menschen: "das absolute Wesen, der Gott des Menschen ist sein eigenes Wesen. Die Macht des Gegenstandes über ihn ist daher die Macht des eigenen Wesens" (Das Wesen des Christentums. 1849, S. 41). Was sich immer auch im Menschen, in seiner Kultur und in seiner Geschichte ereignen mag, für Feuerstein gibt es keinen Ausgriff des Menschen in ein Transzendentes, Übermenschliches, Göttliches, denn: "das Bewußtsein des Unendlichen ist nichts anderes als das Bewußtsein von der Unendlichkeit des Bewußtseins", das heißt: "im Bewußtsein des Unendlichen ist dem Bewußten die Unendlichkeit des eigenen Wesens Gegenstand" (A a O, S. 37). Hier geschieht der radikale Rückgriff auf den Menschen: Alles, was sich im Menschen und durch den Menschen zeigt, ist Mensch und wiederum Mensch und ausschließlich Mensch. Damit ist Gott auch nichts anderes als das offenbare Innere des Menschen, des Menschen ausgesprochenes, entäußertes Selbst (vgl. A a O, S. 76 f.).

Nach diesem Verweis auf Feuerbach wieder zurück zur wissenschaftlichen Selbstgestaltung der heutigen Theologie. Im Grunde befassen sich die theologischen Disziplinen von heute nur mit Denominationen von Fakten, wie sie im Medium des Menschen, seiner Kultur, seiner Geschichte und seiner Gesellschaftlichkeit auftreten. Damit ist jeder Gegenstand der Theologie, Gott mitinbegriffen, in den Zirkel des menschlichen Phänomens eingesperrt; die Rückbesinnung auf den Menschen, so gut auch die Absicht gewesen sein mag, ist zu einer Ideologie des Menschlichen geworden.

5. Ohne Zweifel ist es richtig, daß es keinen Weg zu Gott in den "bloßen Dingen" gibt, keinen Weg gibt, der gleichsam außen am Menschen vorbeiführt, zu Gott hin. Am Menschen und im Menschen muß die Gottesfrage entschieden werden. Doch ist es ein großer Unterschied, ob der Mensch in der Beantwortung der Frage nach Gott jenes Wesen ist, das sich seinen eigenen Gott projiziert, oder ob der Mensch jene Mitte der Wirklichkeit ist, in der sich ein transzendenter Gott verstehbar macht und offenbart. An Bereitschaft zu solch eventuell notwendiger Korrektur fehlt es auch in der heutigen Theologie sicher nicht. Ein erster Schritt zu solcher Korrektur wäre die Verpflichtung jeder einzelnen theologischen Disziplin auf ein "Ganzes" hin; ein Ganzes, das nicht als empirischer Einzelfall gedeutet werden dürfte und dennoch als absolute Voraussetzung verstanden werden müßte.

Aus dem Gesagten sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, daß gewisse eher interne Querelen der Theologie die Hauptverantwortung für die Gottlosigkeit unserer Zeit tragen. Festzuhalten ist vielmehr, daß Feuerbach mit seiner Lehre, daß der Mensch seine Religion selbst macht, daß die Religion als menschliche Selbstentfremdung gesehen werden muß, daß Gott als Ersatz der ungöttlichen Wirklichkeit aufgefaßt werden muß, vor allem der gottverneinenden Ideologie von Karl Marx Vorarbeit geleistet hat. Allerdings sieht Marx den Entwurf der Religion nicht - wie Feuerbach es sieht - vom abstrakten Menschen her. Für Marx hat sich der kritische Blick auf die gesellschaftlichen konkreten Verhältnisse zu richten: "Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind" (Kritik der Hegelschein Rechtsphilosophie, Werk I, S. 488). So ist für Marx "Religion ... die allgemeine Theorie dieser Welt ..., ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also unmittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist" (Werke I, S. 488). So kommt es zum folgenschweren Satz über die Religion als dem Opium des Volkes (Werke I, S. 488). Wenngleich auch Marx der Religion die Bedeutung des Protests gegen das wirkliche Elend und gegen eine herzlose Welt zugesteht, ist die Religion für ihn dennoch nichts anderes als eine illusorische und unwirksame Jenseitsvertröstung des Menschen.

6. Die Feuerbachsche Fixierung allen Wirklichkeitsverstehens am Menschen und der damit konsequente Ausschluß alles transzendent Göttlichen thematisiert sich auch in den Aussagen der neueren Psychologie. Bei S. Freud sind [es] die Wünsche des kindlich hilflosen Menschen nach Schutz vor den Gefahren des Lebens, nach Gerechtigkeit in dieser Welt, nach Wissen um die Entstehung der Welt, nach Wissen um die Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem, mit deren Erfüllung die religiösen Vorstellungen befaßt sind. Im Grunde handelt es sich für Freud um Denkillusionen, die nach außen projiziert werden, und dies charakteristischerweise in die Zukunft und in ein Jenseits (Vgl. Studienausgabe, S. 161, 164). Daß bei Freud konkret Vatersehnsucht und Ödipuskomplex für die religiösen Bedürfnisse grundlegend sind, ist für die Beantwortung unserer Frage nach der Existenz Gottes nicht unbedingt bedeutungsvoll. Bei Freud geht es nicht im geringsten um die Frage von Wirklichkeit in der Gottesfrage: "Religion ist ein Versuch, die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen, die wir infolge biologischer und psychologischer Notwendigkeiten in uns entwickelt haben. Aber sie kann es sich nicht leisten ... Ihre Tröstungen verdienen kein Vertrauen. Die ethischen Forderungen, denen die Religion Nachdruck verleihen will, verlangen vielmehr eine andere Begründung ... Versucht man, die Religion in den Entwicklungsgang der Menschheit einzureihen, so erscheint sie nicht als ein Dauererwerb, sondern als ein Gegenstück der Neurose, die der einzelne Mensch auf seinem Weg von der Kindheit zur Reife durchzumachen hat" (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe I, S. 595).

7. Wenngleich z. B. Adlers Individualpsychologie und C. G. Jungs Tiefenpsychologie vieles relativieren, was Freud an der Religion kritisiert, wird auch in diesen Deutungen der Religion keine Bestimmung der religiösen Wirklichkeit "an sich" versucht. Selbst C. G. Jung, der sich ernsthaft in die psychologische Dimension der religiösen Glaubensinhalte selbst vertiefte, enthält sich von jeder Entscheidung über wahr und falsch in der religiösen Idee: "Die Idee ist psychologisch wahr, insoweit sie existiert. Psychologische Existenz ist subjektiv, insoweit sie durch einen consensus gentium von einer größeren Gruppe geteilt wird" (Psychologie und Religion, 1939, in: Psychologie und Religion, Studienausgabe Olten 1971, S. 12).

8. Wie steht es nun mit den sogenannten Naturwissenschaften angesichts der Gottesfrage? Immer wieder hat es Versuche gegeben, von physikalischen oder mathematischen Grundlagen her einen Gottesbeweis in Gang zu setzen. Solche Versuche von Gottesbeweisen, mögen sie auch gut gemeint sein und von hohem moralischen Ernst motiviert sein, müssen wirkungslos bleiben. Unsere heutige Naturwissenschaft, sei es durch die Besonderheit ihrer Methoden, sei es durch die Wahl ihres Gegenstandes, ist in gewissem Sinn "a-theistisch". Wenn wir bei den Naturwissenschaften das Wort "a-theistisch" gebrauchen, meinen wir nicht eine positive Leugnung oder eine wissenschaftliche Kampfansage der Naturwissenschaft in der Gottesfrage; der "A-theismus" der Naturwissenschaften bedeutet nur die völlige Kompetenzlosigkeit dieser Wissenschaften in der Gottesfrage: nach Methode und Gegenstand kann es weder ein Ja noch ein Nein der Naturwissenschaften zu Gott geben.

So der Tatbestand von heute. Man könnte nun auch fragen, ob sich die Naturwissenschaft in einem solchen a-theistischen Selbstverständnis richtig entwickelt hat. Oder ist die Naturwissenschaft von heute eine Form der Verwahrlosung der Vernunft? Der Vorwurf der Verwahrlosung an die Naturwissenschaft wird heute dann erhoben, wenn das kritische Gewissen der Menschen Zweifel am menschlichen Wert der Technologien, Proteste gegen die Zerstörung der gesunden Umwelt oder Bedenken gegen das Selbstzerstörerische des unbegrenzten Wachstums und Konsums anmeldet. Man stellt auf diese Weise fest, daß in den Ablauf der heutigen Naturwissenschaften keinerlei Kontrolle, keinerlei soziale Verantwortung oder Sinnstruktur eingebaut sind. Galt noch vor kurzem das wertungsfreie Verhalten der Naturwissenschaften als Ausdruck höchster Objektivität, ist vielen Menschen von heute das seelenlose Fortschreiten der Naturwissenschaften zum bürgerlichen und politischen Ärgernis geworden.

Daraus erhebt sich die Frage, ob es angebracht wäre, den Naturwissenschaften ein bestimmtes Verhältnis zur Gottesfrage zu empfehlen. Ich möchte eine solche Empfehlung nicht unbedingt aussprechen. Welchem Ziel haben sich die Naturwissenschaften in ihrem Tun untergeordnet? Es geht im Grunde um eine möglichst einfache und vollständige Beschreibung der empirisch zugänglichen Wirklichkeit. Was immer es auch sei, was die Naturwissenschaft über die Wirklichkeit der Dinge sagt, die Naturwissenschaft macht ihre Aussagen in Formen, die ein verwirrendes Feld von empirischen Daten übersichtlich zu machen haben. Die Naturwissenschaft sucht die möglichst einfache Beschreibung von Vorgängen in den Dingen und vom Verhalten der Dinge. Diese möglichst einfache Beschreibung muß widerspruchsfrei sein und als Beschreibung möglichste Vollständigkeit bezüglich aller beobachteten und beobachtbaren Dinge anstreben. Dabei wird die Naturwissenschaft ihren Anspruch immer als eine gewisse Hypothese aufrecht erhalten. So war z. B. die Newtonische Mechanik einmal ein entscheidender Schritt in Richtung Einfachheit und Vollständigkeit der Beschreibung; eine einheitliche Weltbeschreibung löste damals viele Teilbeschreibungen der Wirklichkeit ab, die weniger einfach und vollständig waren und gegeneinander oft in Widersprüchen oder in undurchschauten Zusammenhängen standen. Inzwischen hat sich der Mensch von neuen Standpunkten den Dingen genähert und festgestellt, daß solche mechanische Weltbeschreibungen nicht absolut sind. In einem gewissen Raster, den der beobachtende Mensch über die beobachteten Dinge legt, sind diese mechanischen Gesetze z. B. stimmig und bezüglich aller beobachtbaren Dinge vollständig. Ändert der forschende Mensch jedoch seinen Standpunkt der Beobachtung, verfeinert der Mensch den Raster seiner Weltbeschreibung z. B., dann genügen solche frühere Weltbeschreibungen nicht mehr den Erfordernissen der Einfachheit und Vollständigkeit in der Naturwissenschaft.

9. Wissenschaftsgeschichtlich ist die Relativitätstheorie die Negation der klassischen Mechanik Newtons. Die Grenzen der Mechanik waren durch die Begründung der Elektrodynamik (Maxwell) offenbar geworden: die Eigenschaften des elektromagnetischen Feldes ließen sich prinzipiell nicht mit Hilfe der Mechanik erklären. Nach verschiedenen theoretischen Überlegungen kommt es schließlich dazu, daß die von Einstein aufgestellte spezielle Relativitätstheorie die klassische Newtonsche Mechanik negiert, jedoch diese Mechanik zugleich als einen Sonderfall für im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit geringe Geschwindigkeiten aufbewahrt. Ähnliche Neubewertungen ergaben sich aus der allgemeinen Relativitätstheorie bezüglich der Struktur des Raumes und bezüglich der Geometrie. Die bisher als alleingültig angesehene euklidische Geometrie wurde von der Riemannschen nichteuklidischen Geometrie negiert; der Geltungsbereich der euklidischen Geometrie wurde als Sonderfall für hinreichend kleine, nichtkosmische Räume festgelegt.

Es kann uns in diesem Zusammenhang nicht darum gehen, die hohen Leistungen des menschlichen Geistes in diesen naturwissenschaftlichen Überlegungen im einzelnen nachzuzeichnen. Hervorstechend ist dabei jenes Wechselspiel von objektiver Geltung der Erkenntnisse und von deren Zuweisung an verschiedene Dimensionen. Klassische Mechanik, spezielle und allgemeine Relativitätstheorie stehen zueinander im Verhältnis von relativen Wahrheiten verschiedener Ordnung. So ist die klassische Mechanik eine relative Wahrheit, die bestimmte Seiten der Wirklichkeit richtig widerspiegelt, aber für Bereiche, in denen der Lichtgeschwindigkeit ( c ) vergleichbare Geschwindigkeiten auftreten, von der speziellen Relativitätstheorie negiert wird. Die spezielle Relativitätstheorie wiederum gilt als relative Wahrheit nur dort, wo die Gravitation vernachlässigt werden kann.

10. Wenden wir uns an diesem Punkt zurück zur Gottesfrage. Wir sehen am Beispiel der Naturwissenschaften, daß der Geist des Menschen eine bedeutsame Fähigkeit hat, die Wirklichkeit mit seinen Aussagen objektiv zu treffen und darüber allgemein aussagen zu können. Übrig bleibt in diesen Wissenschaften das Problem der verschiedenen Angemessenheit an die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit: was in dem einen Bereich gilt, gilt in einem anderen nicht. Um die Richtigkeit der jeweiligen naturwissenschaftlichen Aussage zu bestimmen, scheint es jeweils notwendig zu sein, jenen Zustand der Wirklichkeit anzugeben, in dem die Aussage stimmig und damit objektiv ist. Es handelt sich hier gewissermaßen um ein konditioniertes Objekt, das in verschiedenen Zuständen eine sehr verschiedene Beschreibung erfordert.

11. Es ist derselbe Mensch, es ist derselbe Geist des Menschen, der neben naturwissenschaftlichen Fragen auch die Gottesfrage stellt. Könnte nun Gott gleichsam der absolute, feste, Archimedische Punkt sein, von dem her und auf den hin alle Wirklichkeit verstanden werden muß? Es wäre eine Tölpelhaftigkeit der Philosophie und der Theologie, wollte man [mit] Gott als dem Archimedischen Punkt den nuancierten Fragen der Naturwissenschaft bezüglich Aussage und Objektkonditionierung gleichsam auf die Sprünge helfen. Wie sich die Naturwissenschaften bezüglich ihrer Objektivität heute verstehen, so kann Gott niemals in der Fragelinie der Naturwissenschaften liegen. Denn es gehört für die Naturwissenschaften zum Wesen ihres Fortschritts, ein ständig variables und konditioniertes Verhältnis zwischen dem erkennenden Menschen und der sich im Objekt zeigenden Wirklichkeit zu haben. Gott jedoch sollte gerade jene Wirklichkeit sein, die in nichts mehr konditioniert ist; Gott sollte gerade jenes Wesen sein, in dem der Mensch jene Bedenklichkeit der Naturwissenschaft sollte abstreifen können, jene Bedenklichkeit, wie weit sich die Erkenntnis des Menschen der Wirklichkeit im ganzen und im letzten nähern kann. Die Naturwissenschaften können ihre im Objekt erkannte Wirklichkeit niemals aus der Relation zum menschlichen Erkenntnissubjekt entlassen; somit gibt es darin keine absolut unkonditionierte objektive Erkenntnis der Wirklichkeit.

12. Kann nun ein Gott existieren, den der Mensch als das Ganze, Erste, Letzte und Höchste schlechthin denkt? Wie kann ein solcher Gott erkannt werden? Ein Gott, der nicht mehr Gott wäre, wäre seine Wirklichkeit nur auf einen bestimmten Bereich oder auf ein bestimmtes System beschränkt. Irgendwie jedoch wurzelt im Geist des Menschen die Gewißheit eines Ganzen, von dem der Mensch in der Struktur des naturwissenschaftlichen Denkens eigentlich nie thematisch reden kann, weil sich in den Naturwissenschaften das Relative der Subjekt-Objekt-Struktur nie ganz auflösen läßt. Philosophisch könnte man sagen, daß der Mensch trotz seiner unaufgebbaren Subjekt-Objekt-Beziehung zur Wirklichkeit eine Gewißheit, ein überholendes Bewußtsein von einem Ganzen hat; innerhalb dieses Ganzen kann sich die Subjekt-Objekt-Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit wissenschaftlich thematisieren, gleichzeitig aber ist sich der objektivierend erkennende Mensch gewiß, daß das "Ganze" die Wirklichkeit ist und daß das "Ganze" immer ein Übersteigendes dessen ist, was in der Subjekt-Objekt-Beziehung thematisierbar ist.

Die Philosophie hat diesem, im Menschen irgendwie anwesenden Ganzen mancherlei Namen gegeben: Je nach Standpunkt der Rechtfertigungsnotwendigkeit spricht man von Geist, von Seele, von Person, von einer gewissen Unendlichkeitsfähigkeit des Erkennens, von Autonomie, von Selbstbesitz, von Identität usw. Soll also die Gottesfrage im Menschen und durch den Menschen entschieden werden, muß diese Dimension des Ganzen in Gang gebracht werden. Ich möchte behaupten, die Gottesfrage muß sogar durch den Menschen entschieden werden; denn, selbst das beeindruckendste Schauspiel der Macht Gottes in der Natur, selbst ein klarer göttlicher Sinn in den Abläufen der Geschichte, selbst das Verfolgen der Frage von Herkunft und Zukunft aller Dinge durch die Vernunft, muß vom Menschen erst angeeignet und als etwas mit der Existenz Gottes in Zusammenhang Stehendes verstanden werden.

13. Das Erste Vatikanische Konzil hat eine dogmatische Aussage getroffen, die verbindlicher Bestand von Dogmatik und Theologie ist. In den Grundzügen folgt das Konzil der Lehre des Thomas von Aquin. In der Aussage dieses Konzils heißt es: Gott, der Anfang und das Ziel aller Dinge, kann durch das natürliche Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen mit Sicherheit erkannt werden (DS 3004, DB 1785). Es geht dem Konzil nicht um die Feststellung einer tatsächlichen Erkenntnis Gottes aus den geschaffenen Dingen, es geht um das Können des Menschen in der Gottesfrage, es geht im weiteren um eine Verhältnisbestimmung zwischen gnadenhafter göttlicher Offenbarung und dem natürlichen Vernunftvermögen des Menschen. Mißverständlich wird diese Aussage häufig dahin interpretiert, daß das erste Vaticanum die sogenannten "Gottesbeweise" und deren formale Technik sanktioniert habe; diese Interpretation trifft nicht zu, vielmehr wollte das Konzil in der Frage der "Gottesbeweise" bewußt keine Festlegung treffen. Angemerkt sei jedoch in diesem Zusammenhang, daß aus dieser Wesensbestimmung des Menschen und seiner Fähigkeiten gegenüber Gott ein wesentlich optimistischeres Menschenbild der katholischen Theologie zum Ausdruck kommt als dies z.B. die protestantische Theologie mit der Verneinung der natürlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen bezüglich Gott tun kann.

14. Nun zur zentralen Frage: Kann man wissen, daß Gott existiert? Kann man Gott erkennen, kann man etwas über Gott ausmachen, über seine Eigenschaften, über sein Verhältnis zum Menschen, zur Welt und zur Geschichte? Wenn wir solche Fragen stellen, werden wir wahrscheinlich längst nicht mehr unentschieden sein darüber, ob Gott existiert. Man sollte jedoch eine längst gefällte Entscheidung darüber nicht benützen, um sich den schwierigsten Schritt zu ersparen.

Ich argumentiere im Sinn der Gotteslehre des Thomas von Aquin: Wenn unsere menschliche Vernunft über Gott nachdenkt, kann sie sich nicht mit Teilfragen befassen. Es muß die ganze Wirklichkeit in Frage gestellt werden. Die ganze Wirklichkeit in Frage zu stellen, ist allerdings gar nicht leicht. Der Mensch muß zunächst aus seiner konkreten Erfahrung von Welt und Dasein Themen finden, die das Gesamte seiner Welt und Erfahrung treffen. Das Gottesdenken käme z.B. nicht in Gang, wollte man fragen, ob Gott weiß oder schwarz, schwer oder schwerelos ist. Solche Themen, die das Gesamte von Mensch und Welt irgendwie treffen und fraglich machen, liefern die im Verlauf der Denkgeschichte versuchten "Gottesbeweise". Nicht alle Themen aus solchen Gottesbeweisen sind gleichermaßen zutreffend und zielführend. Möglichst umfassend sind Themen wie das Werden, die Verursachtheit, die Kontingenz (d.h. Nicht-Notwendigkeit) aller Dinge. Ein Beispiel sei angeführt: Thomas von Aquin übernimmt in seinen berühmten fünf Wegen zum Aufzeigen des Daseins Gottes im ersten Weg das Argument der Bewegung, des Werdens, der Veränderung, aus der Philosophie des Aristoteles. Kurz der Weg dieses Gottesbeweises: Wir stellen fest, daß es vielerlei Veränderung in unserer Erfahrungswelt gibt. Was sich verändert, d.h. was sich bewegt, muß auch von einem "Anderen" bewegt werden; Selbstbewegung unter jeder Rücksicht ist widersprüchlich und undenkbar. Nun müssen wir fragen, ob jener Andere, der bewegt, auch wieder von einem Anderen bewegt wird. Damit ist in unserer Erfahrungswelt ein Denken in Gang gesetzt, das immer wieder für jedes Bewegen nach dem Anderen, der bewegt, fragt. Man kann immer wieder nach dem nächsten, nach dem höheren anderen Beweger fragen, ohne an ein Ende zu kommen. Hier gerät das Denken in seinen "regressus in infinitum", in das Fragen ins Unermeßliche. Thomas stellt nun fest, daß es weder unser Denken noch die Wirklichkeit in ihrer Denkbarkeit verträgt, daß immer wieder nach einem weiteren Beweger gefragt wird, der selbst wieder von einem anderen Beweger bewegt wird. Aus dieser entstandenen Not um das Verstehen unserer Wirklichkeit kommt Thomas zum Schluß: Es gibt einen Ersten Beweger, der selbst unbewegt ist; und diesen Ersten unbewegten Beweger nennen wir Gott.

15. Solche Gottesbeweise sind nichts anderes als die Sicherung der von uns erfahrenen Wirklichkeit des Denkens. Im Grunde sagt Thomas: Für unser vernünftiges Denken, das mit dem Thema des Werdens die Wirklichkeit befragt, ist die Wirklichkeit nicht mehr wirklich, wenn nicht der Grund der Wirklichkeit in einem Ersten, unbewegten Beweger gefunden wird. Es fällt dann nicht mehr schwer, diesen Ersten Beweger "Gott" zu nennen, der damit zum Grund aller mit Bewegung (Werden) gekennzeichneten Wirklichkeit wird. Daraus tut sich die Vernunftgleichheit auf: ist unsere werdende, bewegte Wirklichkeit wirklich, ist auch Gott wirklich, existiert Gott.

Solche Versuche zum Nachweis der Existenz Gottes kann man in ähnlicher Denkweise auch mit anderen Themen wie z.B. Kontingenz, Ursächlichkeit oder zielgerichtetem Verhalten der Dinge unternehmen. Bestehen bleibt trotz allem die bohrende Frage, warum noch nicht alle Menschen Gottes Existenz akzeptieren, warum der Gottesgedanke in der Konkurrenz der heutigen Sinnwelten des Menschen nicht der unbedingt siegreiche ist.

16. Ich möchte eine Antwort darin geben, daß das bloße "Ausdenken" der Existenz Gottes durch die menschliche Vernunft noch nicht den vollen Schritt des Menschen auf Gott bedeutet. Im bloßen Ausdenken der Existenz Gottes bleibt der Vernunft auch keinerlei Möglichkeit zur Verifikation ihres Gedanken in der Erfahrung. Gerade die "Erfahrung" und nicht so sehr die "Denkbarkeit" faszinieren das Lebensgefühl des heutigen Menschen. Wenn man den Gottesgedanken der Vernunft verfolgt, zeigt sich jedoch bei genauerem Hinsehen ein zweites Moment, das genauso wie die Denkbarkeit der Vernunft für die Gottesbejahung wesentlich ist: dieses zweite Moment möchte ich "Entscheidung" nennen.

Wir gebrauchen zunächst ein Bild, um diesen Sachverhalt darzustellen. Dieses geometrische Bild soll vor allem das verschiedene Verhalten des Menschen angesichts des Ganzen illustrieren: Stellen wir uns ein regelmäßiges Vieleck vor, dessen sämtliche Eckpunkte gleichmäßig weit von einem Mittelpunkt entfernt sind. Vermehren wir nun an diesem Vieleck in Regelmäßigkeit und in gleichem Abstand vom Mittelpunkt des Vielecks die Eckpunkte gewissermaßen ins Unbegrenzte, wird dem Betrachter dieses geometrischen Verfahrens wahrscheinlich zu irgendeinem Zeitpunkt der Satz entschlüpfen: "Aha, ein Kreis". Dieses Beispiel wird häufig in der Philosophie zu Hilfe genommen, um zu illustrieren, was "disclosure" (Aufdeckung, Erschließung, Enthüllung) in geistigen Prozessen ist. Vorausschauend auf das Problem der Gottesfrage, sollte am Verhalten des Menschen folgendes beachtet werden: Angenommen, der eine Mensch sagt: Aha, ein Kreis; der andere Mensch jedoch sagt: Nein, kein Kreis, ein Vieleck.

Wer von den beiden Betrachtern hat nun eigentlich recht? Beide haben recht, so widersprüchlich auch ihre Aussagen sind: Recht hat der, der nur ein Vieleck und keinen Kreis sieht, denn es ist selbst mit unbegrenzt vielen Ecken noch ein Vieleck und kein Kreis. Recht hat auch der, der als die innere und erschließende Gestalt dieses Verfahrens den Kreis erkennt.

Soweit dieses bekannte Beispiel aus der Geometrie. In der Gottesfrage könnten wir nun eine ähnliche Frage stellen: Wer hat recht? Derjenige, der sagt, er sehe trotz allen Weiterfragens immer wieder nur Welt und nicht Gott? Oder derjenige, der als das Erschließende seines nie zuende gehenden Fragens Gott erkennt? Bis zu dieser Gegenüberstellung haben beide recht.

Noch einmal zurück zum Beispiel des Vielecks bzw. Kreises: Wer nur das Vieleck sieht, der hat keine Entscheidung für den "Sinn des Ganzen" getroffen, der im Fortschreiten dieses geometrischen Verfahrens liegt, d.h. für den Kreis. Derjenige hingegen, dem sich der Kreis erschließt, hat eine Entscheidung getroffen für etwas, was er eigentlich nicht im einzelnen sieht, was jedoch im "Sinn des Verfahrens" liegt. Jeder Standpunkt ist richtig, den Unterschied macht die "Entscheidung" für den Sinn aus, der im Verfahren liegt; ohne diese "Entscheidung" kann man immer zutreffend auf das einzelne Feststellbare hinweisen, das eben kein Kreis ist.

Noch ein weiteres gibt dieses Beispiel her: Der Kreis entsteht nie unmittelbar aus der Vermehrung des Vielecks, der Kreis entsteht nur aus dem "Sinn" des Vermehrungsverfahrens. Damit ist der Kreis kein Produkt des vermehrten Vielecks, sondern nur dessen übersteigender Sinn. Etwas Vergleichbares ergibt sich daraus für die Gottesfrage: Gott ist niemals das Produkt von Erfahrungsverhältnissen, die ins Unermeßliche, ins Unbegrenzte gedacht werden. Gott ist vielmehr der transzendente (übersteigende) Sinn unserer bis zum Ganzen hin befragten Welt; Gott ist nicht die Summe dieser Fragen, sondern der übersteigende Sinn dieses Fragens; obwohl nach Gott von unserer Erfahrungswelt her gefragt wird, obwohl die Gottesfrage damit eine sehr objektive Frage ist, ist Gott dennoch nicht das Produkt unseres Fragens, sondern der transzendente Sinn, der sich in seiner Erschließung nicht wiederum in Menschliches und Weltliches auflösen läßt.

17. Solche Fragen an das Ganze unseres Daseins stellt der nach dem Grund des Daseins fragende Mensch. Man kann sehr verschieden solche Grundfragen stellen; in jedem Fall jedoch sucht man ein erschließendes Ganzes und gibt sich nicht damit zufrieden, daß dies eben so sei oder daß eben Menschen oder Dinge dies so bedingten; man wird, wie beim Beispiel des Werdens und der Bewegung, so lange fragen, bis sich ein Ganzes erschließt, das ein ganz Anderes ist und sich doch als der Sinn des ganzen Fragens zeigt. Solche Fragen kann der Mensch sehr verschieden thematisieren: Man kann in einer Welt voller Unrecht nach der absoluten Gerechtigkeit fragen; der Anfang der Welt wäre ein anderes Thema; die Frage der Kontingenz, der relativen und absoluten Daseinsnotwendigkeit wäre ein anderes Thema; der Grund der menschlichen Freiheit in einer Umwelt voller Bedingungen wäre wiederum ein anderes Thema; wiederum etwas anderes wäre die Frage nach der Priorität von Gut und Böse, von Wahr und Falsch. Die Gotteslehre des Thomas von Aquin ist ein ständiger Umgang mit den Themen der Endlichkeit.

Wenn wir noch einmal das vorhin genannte Beispiel vom Kreis im Auge behalten, verstehen wir auch, was Gott hier bedeutet: Je stärker wir durch Themen unseres endlichen Daseins, wie sie vorhin genannt wurden, unsere Wirklichkeit befragen, desto deutlicher muß sich Gott als das erschließende Ganze zeigen, das als der "Sinn" des Fragens dem denkenden Menschen gegenübertritt und dem Menschen einen völlig neuen und begründenden Blick für die Wirklichkeit öffnet. Warum jedoch gelingt dieser Weg der denkenden Vernunft nicht allen Menschen? Warum gibt es Atheisten, die Gott verneinen, warum gibt es Agnostiker, die meinen, unsere menschliche Vernunft sei zu keiner maßgeblichen Äußerung über Gott fähig?

18. Durch diese Fragen werden wir auf das zweite gleichermaßen wesentliche Moment in der Gottesfrage verwiesen. Es geht um das Moment der Entscheidung. Das, was sich als Sinn in diesen Fragevorgängen des Menschen zeigt, ist kein Ding unter anderen Dingen, ist kein Gegenstand des Erkennens, wie es die Gegenstände unserer Erfahrung sind. Der sich zeigende Sinn bedeutet dem fragenden Moment erst etwas und bedeutet erst etwas Wirkliches, wenn sich der Mensch dazu "entscheidet". Es ist wie beim Beispiel der disclosure des Kreises; zwei Menschen fragen dasselbe, sehen dieselbe Erfahrungswelt und doch sehen sie die Wirklichkeit verschieden: Der eine sieht immer wieder nur seine Erfahrungswelt und ihre Fragen, doch ihm geht Gott als Wirklichkeit nicht auf, weil er sich nicht für einen Sinn entscheidet, sondern nur auf den Gegenstand sieht. Der andere entscheidet sich für den Sinn als das Ganze und begreift Gott als den Grund, den Anfang, die Ordnung und das Ziel seiner Wirklichkeit. Der sich dem Entscheidenden zeigende Sinn wird zur Wirklichkeit, wird zur transzendenten Wirklichkeit in allem Dasein, wird als Gott begriffen und ergriffen.

Sicher kann man nun fragen: War der volle Schritt des Menschen auf Gott zu dann doch kein echter Weg der denkenden Vernunft, war es vielleicht doch eine blinde und unbegründete Entscheidung? Zu antworten ist: Das Fragen nach Gott als dem erschließenden Ganzen war ein volles Ausschöpfen der Ansprüche und der Möglichkeiten der Vernunft; die "Entscheidung" birgt nicht zuletzt auch die Erschließung der Vernunft. Der andere Mensch, der nicht zur Gottesbejahung durchgestoßen ist, hat genauso die Vernunft bemüht, er hat jedoch in der Unendlichkeit des Fragens seine Entscheidung in die erfahrbaren Gegenstände und in deren innere Zusammenhänge hineinvertagt; für seine Entscheidungslosigkeit über den Sinn wird er als Argument allerdings immer wieder einen Erfahrungsgegenstand vorweisen können.

Dieses Verfahren in der Gottesfrage zeigt, daß die Welt unserer Gegenstände nicht nur durchsetzt ist von Verhältnissen, die in den Naturwissenschaften ausgedrückt werden; wenn der Mensch mit seinen Gegenständen umgeht in der Sicht eines Ganzen, zeigt sich in derselben Wirklichkeit auch ein Sinn. Der Sinn ist nicht Gegenstand des bloßen objektivierenden Erkennens, der Sinn ist jedoch erkenntniserweiternd, indem er die Welt der wissenschaftlichen, empirischen Gegenstände in einer völlig neuen Sicht zeigt. Der Sinn ist kein gegenständliches Erkenntnisprodukt, der Sinn ist eine Sache der Entscheidung, und dennoch hat der Sinn wesentliche Bedeutung für das Erkennen. Anläßlich solcher Überlegungen über Sinn und gegenständliches Erkennen könnte sogar noch ein gemeinsamer Grund für Naturwissenschaft, Philosophie, Ethik und Theologie gefunden werden.

19. Wir müssen zur Gottesfrage zurückkehren: Gott ist für die Vernunft kein Gegenstand unter anderen Gegenständen, Gott zeigt sich als Sinn, der durch die Entscheidung des Menschen zu jener Größe des Erkenntnisprozesses wird, die den unüberbietbaren Grund allen Daseins birgt. Gott ist also nicht ein "Sinn" nach Art einer willkürlichen Wahl oder nach dem beliebigen Geschmack des Menschen; daß jedoch Gott nicht im "Gegenstand", sondern im "Sinn" auftritt, deutet vor allem den besonderen Weg des Menschen im Erfassen der Existenz Gottes an.

Dieser besondere Weg zum Begreifen Gottes, der kein Ding unter anderen Dingen sein kann, bringt viele Konsequenzen für den gottsuchenden und gottbejahenden Menschen mit sich, Konsequenzen auch für Philosophie und Theologie. Mit einem Wort: das Entscheidende im Begreifen Gottes wird durch Entscheidung. Entscheidung bringt Sinn, der gewissermaßen zur unbedingten Innerlichkeit des gegenständlichen Erkennens wird. Gerade das Wort Entscheidung deutet an, daß es etwas Ungewöhnliches mit dem Besitz und mit dem Erlangen von Gott auf sich hat. Auch der gottbejahende Mensch kann Gott nicht als einen endgültigen und unverlierbaren Besitz nach Hause schaffen. Die Gewißheit des Daseins Gottes ist für den Menschen nur da, wenn der Mensch "in Entscheidung" bleibt. Der sich aus den Entscheidungen zurückziehende Mensch verliert die Gewißheit über Gott; das Wissen um Gottes Existenz kann kein toter Wissensbesitz sein nach Art des Wissens, daß 2 + 2 = 4 ist. Gott zeigt sich als Wirklichkeit nur, solange er sich in der Entscheidung erschließen kann.

Sucht man also Gründe für die in der Zahl vielleicht abnehmende Gotteszustimmung der Menschen, sollte man mit Vorrang auf die Möglichkeiten von Entscheidungen und auf die Entscheidungsfähigkeit des Menschen achten. In einer Umwelt des Wohlstands, der intensiven und extensiven Organisation, der Automatik vieler ökonomischer und sozialer Prozesse verliert der Mensch zunehmend die Fähigkeit für langzeitliche Entscheidungssituationen, die Entscheidungen werden immer einfacher, immer kurzfristiger und in der Sache immer gegenstandsloser. Es bleibt als letzter Rest von Entscheidung die sogenannte Konsumentenentscheidung.

20. Man spricht häufig nicht davon, aber in vielen Wissenschaften sucht man den berühmten Archimedischen Punkt. Man sucht jenen Punkt, der ein absoluter und sicherer Standort ist, von dem aus man alles aus den Angeln heben kann in Wissenschaft und Weltverstehen. Auch der Gottesgedanke ist mit diesem Wunsch belastet. Ja, besonders bei Gott meint man, man müßte geradezu diesen absoluten Festpunkt innehaben. Nicht wenige Versuche der Philosophie sind in dieser Richtung verlaufen. Gott als Archimedischen Punkt zu verstehen mag vielleicht an sich richtig sein, doch kann der Mensch auch selbst mit dem Gottesgedanken diesen Standort nie denkerisch einnehmen. Wir können Gott denkerisch nie in diese Unendlichkeit und Absolutheit entlassen. Daher sind auch viele Fragen über Gott noch nicht ganz richtig gestellt, wie z.B. die Frage des Bösen, des Leidens in der Welt. Wir können z.B. in der Frage "Warum Böses in der Welt?" über Gott nicht entscheidungslos reden, als ginge es nur darum, einen widerspruchsfreien Begriff von Gott gegenüber dem Problem des Bösen zu finden.

Gott gibt dem Menschen gegenüber nicht die Gewißheit von "Gegenstand", sondern die Gewißheit von "Sinn". Die Wirklichkeit von Sinn zeigt sich uns in der Entscheidung, die das ausgeschöpfte vernünftige Denken zu seinem Grund erhebt. Das Entscheiden des Menschen verläuft nicht im großen Thema von Sein und Nicht-Sein; das Entscheiden des Menschen hat eine Alltäglichkeit, Mühsamkeit und Gewöhnlichkeit. Das Entscheiden des Menschen betrifft nicht unmittelbar das absolut Gute und das absolut Böse; das Entscheiden des Menschen liegt in der Alltäglichkeit von Gut und weniger Gut, von Gutem und Besserem. Die Bandbreite unserer alltäglichen Entscheidung besteht darin, daß wir in unseren Entscheidungen die Priorität, den Primat des Guten vor dem Bösen entscheidend sichern.

Und Gott, der sich als Grund der Wirklichkeit in Sinn zeigt, trägt für unser Erkennen die Züge der menschlichen Entscheidung; so z.B. gewinnen wir Gewißheit über das Dasein Gottes, indem uns Gott als der unbedingte Primat des Guten aufgeht. Und Gott hat für uns viele Namen. Diese Namen sind nicht Projektionen des Menschen in den Himmel; diese Namen sind der Ausdruck dafür, wie wir unter dem Anspruch des Sinns den Grund unserer Wirklichkeit verstehen können. Wir dürfen Gott gut, wahr, heilig, gerecht, barmherzig, für seine Welt sorgend, seine Welt lenkend nennen. Jeder Name Gottes ist eigentlich ein Thema, unter dem uns Entscheidungen in den Grund der Wirklichkeit gelingen. Wir dürfen Gott auch Namen geben, die das ganze Mensch- und Weltsein in Sinn fassen; so heißt zurecht Gott: der Schöpfer aller Dinge, das absolute Sein, die absolute Notwendigkeit, die absolute Wahrheit, erste Ursache, das Höchste, das Letzte, der Geist, das Leben. Diese Namen treffen die Wirklichkeit Gottes, sie sind jedoch Namen letztlich aus dem Wurzelboden der menschlichen Entscheidungen, in denen sich uns Gott in Sinn als Grund zeigt.

Unwirklich wird unser Gottesbild dann, wenn wir vergessen, daß die Klarheit, Liebenswürdigkeit, Überzeugungskraft und Mitteilbarkeit unseres Gottesbildes von der lebendigen Beziehung zu unseren Entscheidungen, von der Intensität der Erschließung, abhängt. Dann wird unser Wissen von Gott ein totes Gegenstandswissen, das die Menschen und die Welt nicht verändern kann.

21. Hier wurde ein Gottesbild der menschlichen Mühsamkeit vorgestellt. Es wäre ein Leichteres, den Gottesgedanken in die Unendlichkeit und Absolutheit der philosophischen Spekulation hinauszurücken; für viele würde sich damit die Frage nach der Existenz Gottes nicht beantworten. Auch für andere Menschen, die wir zur Rettung ihres Daseinssinns von Gottes Existenz überzeugen wollen, bliebe Gott verschlossen. Existenz Gottes ergreift uns, wenn sie erschließt; sie erschließt, wenn menschliche Entscheidungen für das Bessere, Wahrere, Gerechtere, Barmherzigere fallen. Wenn wir vom Dasein Gottes überzeugen wollen, dürfen wir nicht den Archimedischen Punkt anbieten, sondern die Alternative für das jeweils Bessere. So ist für uns und für die anderen Menschen die Welt so zu gestalten, daß sich die Erschließung Gottes ereignen kann. Das Gottsuchen braucht die Kontinuität und die Solidarität vieler Entscheidungen. Der Gottsuchende braucht die hilfreiche Hand des entscheidungsbereiten gottbejahenden Menschen.

22. Vieles ist heute in unserem Verhältnis zu Gott vom Ideal des Archimedischen Punktes getrübt. Wir reden gern über Gott; und wir reden gern über unser Reden über Gott. Wer den Gedanken der Erschließung begriffen hat, der weiß, daß man erst mit Gott reden muß, beten und glauben muß, ehe man über Gott reden kann. Und fragt man zuletzt, warum Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, warum uns Gott sein Wollen und seine Gedanken geoffenbart hat, dann können wir so antworten: In seiner Offenbarung hält Gott unwiderruflich sein Sinn-Bild fest, in dem unsere Entscheidungen geschehen müssen. In seiner Menschwerdung, im Vollziehen des Lebens, im Erleiden des Todes und in der Macht der Auferstehung ist jener Daseinsbereich für den Menschen angemessen, in dem der Sohn Gottes selbst die Erschließung des Göttlichen für jeden Menschen verbürgt.
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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 03.05.1998.

 

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