Des Menschen Gotteserkenntnis und
Gotteserfahrung
als theologisches Paradigma Mariens[1]
Von Weihbischof Prof. Dr. Kurt Krenn, Erzdiözese Wien
(1987-1991)
I.
In
der spekulativen Theologie gibt es schwierige und weniger schwierige Aufgaben. Zu
den leichteren Aufgaben gehört es, begrifflich feststehende Verhältnisse, die
ihren dogmatischen Ausdruck bereits gefunden haben, auf andere gegenständliche
Bereiche zu übertragen; das heißt, hat man erst einmal eine grundlegende
spekulative Einsicht gewonnen, läßt sich diese immer wieder anwenden; man wird
überdies auch immer wieder in den verschiedensten Bereichen der Theologie das
gleiche fundamentale Problem entdecken. Eine solche spekulative Einsicht ist
wie ein Paar neuer Augen, mit denen wir bisher verborgen gebliebene
Zusammenhänge entdecken und mit denen wir die Wirklichkeiten des Glaubens in
neuen Formen nunmehr erfassen. Die systematische und spekulative Theologie ist
heute ein großes, weites und in viele Zusammenhänge strebendes Gebäude; grundlegende
Einsichten und vielfache Anwendung solcher Einsichten greifen darin immer
wieder ineinander und ergeben schließlich ein Lehrgebäude der Theologie mit
einer eigenen Sprache, mit eigenen Begriffsverhältnissen und mit dem Anspruch
auf eine eigene Wirklichkeit. Und es gibt heute bereits manchen Begriff und
manches Wort, die im Alltag kaum verstanden werden, die jedoch innerhalb dieses
systematischen theologischen Gebäudes eine sehr wirksame Bedeutungswelt
besitzen.
Es
gehört gegenwärtig sicher zu den großen Problemen der christlichen Verkündigung
und der Theologie, daß von vielen Menschen die Sprache über Gott, über die
Erlösung, über die Gnade, über die Wirklichkeit des Transzendenten und des
Übernatürlichen heute einfach nicht mehr verstanden wird. Diese Feststellung
ist leicht zu machen. Man braucht nur bewußt auf die Sprache der Massenmedien,
in denen das Sprachverstehen unserer Zeit geformt wird, hinzuhören. In der
Sprache des heutigen Alltags fehlen zunächst einfach die Worte wie Gott, Gnade,
Erlösung usw. und der Gebrauch solcher Worte. Noch gravierender jedoch dürfte
der Umstand sein, daß keine Gedankenzusammenhänge und Situationen mehr
dargestellt werden, die dem sprechenden und nachdenkenden Menschen das
Bedürfnis eingeben, ein Wort wie Gott, wie Gnade, wie Vorsehung, wie Sünde
überhaupt aussprechen zu wollen. Die heutzutage in den Massenmedien und auch in
der Kunst dargestellten Situationen des Menschen beanspruchen gar keine andere
Botschaft als: es geht um Geld und Macht, es geht um das ichbezogene Interesse,
es geht um pädagogische und psychologische Probleme, es geht um soziale Fragen,
es geht immer um Fragen, für deren Beantwortung man alle Ursachen im profanen Alltag und in der Umwelt des Menschen
suchen muß. Man könnte hierüber sinngemäß das Wort des frühen Wittgenstein
anwenden: „Sätze können nichts Höheres ausdrücken.“[2] Die Sprachwelt des heutigen Menschen und die von ihm
erfahrenen Situationen haben demnach keine höhere Botschaft, keine tiefere
Bedeutung in sich; alles ist aus der vorhandenen Umwelt des Menschen zu deuten
und zu bedeuten. Wie eine verlorene und unbeachtete Welt liegen hier die
Aussagen des Glaubens daneben: man versteht sie nicht mehr, man vermutet keine
Bedeutung in ihnen, man gesteht ihnen keine Wirklichkeit mehr zu.
Über
solche Tatbestände haben Kirche und Theologie mit großer Dringlichkeit
nachzudenken. Man hat auch in der Theologie für dieses Problem eine
Generalformel gefunden: Man fordert nunmehr, daß der Glaube in der Sprache
unserer Zeit und unserer Menschen verkündet werden müsse; auch der seit dem
Zweiten Vatikanischen Konzil gängig gewordene Begriff vom
„aggiornamento“ der Glaubensaussagen zielt im wesentlichen in diese
Richtung. Einige Versuche sind unternommen worden; der Erfolg dürfte unterschiedlich,
doch in jedem Fall unbefriedigend gewesen sein. Es kann nicht allzuviel
erbringen, wenn sich die christliche Verkündigung gewissermaßen nur in die
heutige Sprachwelt einschleicht. Manch auffälliger, aber kurzlebiger Erfolg war
einem Predigt- und Sprachstil beschieden, der modische, technische,
gruppenspezifische Worte und Wendungen aufgriff und damit die ganz andere
Wirklichkeit Gottes und des Glaubens darstellen wollte. Veränderung durch
sprachliche Anpassung war die Strategie, Anpassung durch Veränderung der Glaubensaussagen
war oft das Resultat. Eine gemietete Sprachwelt bewirkt keine entscheidenden
Fortschritte in der Vermittlung der Glaubensinhalte; eine bloße Einmietung in
die heutige Sprache ohne die Erbringung neuer innerer Einsichten läßt eine
modern klingende Sprache sehr schnell in einem lächerlichen Pathos erstarren,
wir spüren dies heute am modernen sprachlichen Gestelze der Fürbittgebete oder
der überstrapazierten Bibelübersetzungen oft sehr deutlich.
Mit
gutem Recht wird man heute fordern, daß die Kirche in den Medien mit äußerster
Konsequenz präsent sein müsse. Es ist auch richtig, die Wichtigkeit der
Darstellung der christlichen und der theologischen Relevanz in Politik,
Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft zu betonen. Ebenso zutreffend ist es, neue Lebensformen
und neue Kulturformen zu schaffen, um für die christlichen Glaubensinhalte neue
Zonen von Erlebniswelt dazuzugewinnen. Wichtig ist es ebenfalls, von der
abstrakten und schwer verständlichen Sprache der Theologie zu einer
zeitgemäßeren Ausdrucksweise zu finden, in der sich der Mensch mit all seinen
Fragen und Sorgen wiederfindet und verstanden sieht. Doch alle diese
sorgenvollen Überlegungen und Versuche bleiben ohne Mittelpunkt und ohne innere
Kraft, wenn nicht die Grundfrage all dieser Probleme zur Aufgabe genommen wird.
Die Grundfrage des Menschen, vor allem des heutigen Menschen, ist die Frage nach der Erfahrung.
Man
braucht kein Prophet zu sein, um vermuten zu dürfen, daß das Anliegen, dem man
den Namen „Erfahrung“ gibt, immer mehr zum dominierenden Thema der
Theologie werden wird. Der Grund dafür liegt im Menschen, in der Not des
Menschen. Dem Menschen bieten sich heute unzählige Informationen. Der Mensch
wird dadurch in Zusammenhänge hineingezogen, deren Konsequenzen und Resultate
kaum mehr überschaubar sind. Im Wort „Information“ liegt eine
Kennzeichnung des empfangenden Menschen: Der Mensch wird informiert, er wird
geformt, er wird verändert. Und mit der steigenden Information wächst auch das
Grundgefühl von der Veränderlichkeit des Menschen. In früheren Zeiten schien es
dem Lebensgefühl des Menschen noch möglich, zu den Ereignissen, die den
Menschen gewissermaßen informierten und veränderten, eine menschliche
Entscheidung einzubringen. Zunächst ist der Mensch heute von der Vielfalt der auf
ihn einströmenden Welt gebannt und fasziniert; dennoch wird ihm die Frage
bewußt werden, ob er denn nur mehr „zur Kenntnis nimmt“ und im
Strom dieser vielfältigen Informationen und Eindrücke mitgerissen wird, ob er
überhaupt noch irgendwie seine eigene Entscheidung einbringen kann, ob er
irgendwie noch irgendwo sein eigenes Selbst
einbringen kann. Das Selbst des Menschen wird immer sprachloser und formloser,
immer mehr überlagern die informativen und äußeren Ereignisse das Selbst des
Menschen. Der Mensch von heute erlebt unendlich viel in jenem informativen
Bereich, in dem wir ein immer reicheres Bild von unserer Umwelt gewinnen; die
Frage bleibt dabei jedoch, ob der Mensch, der so viel „erlebt“ hat,
auch noch etwas „erfährt“.
Das
Wort Erfahrung wird heute gleichfalls
oft verwendet; es findet sich vor allem in der Sprache und in der
Argumentation der jungen Menschen. Wenn man das Wort Erfahrung vom Erleben, vom
Erlebnis abheben will, dürfte das Selbst
des Menschen dafür das unterscheidende Merkmal sein. Man kann heute in alle
möglichen Vorgänge hineingezogen werden, doch immer mehr wird man zweifeln
dürfen, ob das eigene Selbst noch mehr
ist als das Aufnehmen, das Interesse, das Wissen, das Mitgerissenwerden, das
Gebrauchen, das Verbrauchen, das Funktionierenkönnen, das Dabeisein, das
Insidersein des Menschen. Der heutige Zugriff durch die totale Information ist
gleichzeitig eine radikale Ausbeutung des Selbst des Menschen, der Identität
des Menschen. Die vielen „Erlebnisse“ ersetzen immer mehr die
„Erfahrung“, in der der Mensch die Gewißheit haben sollte, daß es
um ihn selbst geht. So wird der Mensch irgendwann die Frage stellen müssen, ob
es noch um ihn selbst oder ob es um etwas anderes geht. Diese Frage könnte man
auch die Primatsfrage des Menschen
nennen; in dieser Primatsfrage fragt der Mensch nach der Möglichkeit seines
Selbstbewußtseins, seines Selbstbesitzes und seiner Selbstbestimmung. Und nur
dann, wenn das Selbst des Menschen in diesen drei Perspektiven noch durchwirkt,
wird man noch von „Erfahrung“ sprechen können. In der Fülle von
Erlebnissen, die auf den Menschen einstürmen, wird sich das Selbst der
Erfahrung sodann als Vorrang (Primat) des Menschen vor den Dingen, als Primat
des Ethischen vor dem Technischen und als Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen
darstellen und bewußt machen.
Mit
einer solchen Fragestellung ist natürlich längst jenes frühere philosophische
Interesse überwunden, das mit „Erfahrung“ das bloße Heranschaffen
von empirischen Daten an den
erkennenden Menschen meinen konnte. Die empirischen Gegebenheiten haben heute
längst ihre rein quantitative Darstellungsebene gefunden, so daß heute eine
wissenschaftliche Weltbeschreibung ablaufen kann, in der der Mensch als Subjekt
nichts vorrangig subjektiv Menschliches mehr einzubringen braucht. So hat sich
das Problem der Erfahrung heute gewissermaßen umgedreht: Nunmehr geht es um die
Möglichkeit des Menschen, mit seinem subjektiven Selbst noch in der Welt der
rein quantitativ verstehbaren
Darstellungen ein Selbst aufrecht zu
erhalten, das z.B. die Frage nach der Person oder nach der Ethik mit Sinn und
Bedeutung noch möglich macht.
Das
Problem der Erfahrung ist heute nicht einfach jenes von Kant. Für Kant war
Erfahrung das Zusammenspiel sehr ungleichartiger Elemente, nämlich einer
Materie zur Erkenntnis aus den Sinnen und einer gewissen Form, sie zu ordnen
aus dem inneren Quell des reinen Anschauens und Denkens. So ging es noch für
Kant darum, daß die reinen Verstandesbegriffe dazu dienen, Erscheinungen zu
buchstabieren, um aus subjektiven Wahrnehmungen objektive Erkenntnis zu machen.
Dieses erkenntnistheoretische Problem ist in unserer Zeit nicht mehr das
Problem der Erfahrung. Die reinen Verstandesbegriffe des erkennenden Subjekts
sind heute in einem gewissen Sinn belanglos geworden; die Beschreibungen der Naturwissenschaft haben im Kriterium der
Einfachheit und Vollständigkeit ein eigenes
autonomes Maß gefunden, das auf keinen Allgemeinbegriff, auf keine Wirklichkeit
und auf keine kausale Verknüpfung mehr zu rekurrieren braucht. In den reinen
Verstandesbegriffen Kants lag noch die Chance eines „Selbstbehalts“
des Subjekts; wie jedoch kann heute das menschliche Subjekt noch ein Selbst
ausüben, wenn die allgemeinen und notwendigen Verknüpfungen in den
Wissenschaften gar nicht mehr gefragt sind?
Es
geht auch heute, nur eben aus veränderter Perspektive, um die Artikulation des
Selbst. Dieser Artikulation sind jedoch heute die erkenntnistheoretischen
Themen versagt, weil das Verhältnis von Subjekt und Objekt nicht mehr in diesem
Sinn problematisch ist. Die immer stärkere Quantifizierung der
Darstellungsverhältnisse in den heutigen Wissenschaften läßt das einstmals
klassische Problemverhältnis von Subjekt und Objekt zunehmend belangloser
werden, insofern die heutigen Wissenschaften eine Beschreibungsstruktur der
Welt errichten, die auf charakteristische Denkverknüpfungen des erkennenden
menschlichen Subjekts wie z.B. Allgemeinbegriff, Kausalität, Zielgerichtetheit,
Ganzes, Ordnung, Wert usw. nicht mehr eingehen zu müssen vermeint.
Sosehr
man auch in früheren Epochen diese Möglichkeit des erkennenden Subjekts dem
Problem der objektiven Welterkenntnis zuordnete, sosehr bestand darin ein
Reservoir von Formen für die Artikulation des Selbst. Mit dem Wort Formen wird etwas in Überlegung
gebracht, was heute im Zusammenhang mit Erfahrung meist übersehen wird.
Erfahrung wird heute
oft in Verbindung gebracht mit dem, was „der Fall ist“. Gerade oft
in Abhebung von einer nicht akzeptierten Metaphysik wird Erfahrung in eine
unlösbare Beziehung zum Tatsächlichen,
Faktischen gebracht. Im Tatsächlichen wiederum erblickt man als
charakteristisch eine gewisse bloße
Punktualität, die im Gegensatz zu jeder Erweiterung in einer
„Form“ steht. Mit dieser Zuspitzung auf das Punktuelle im
Tatsächlichen wird Erfahrung (vor allem aus der Perspektive des Empirischen)
zum formlosen punktuellen Auftritt in
den Einzelfällen der Wirklichkeit. Und Erfahrung hat gegenüber den einzelnen
Tatsachen nur mehr jenes Eigencharakteristikum, daß sie sich (punktuell)
ständig wiederholen kann. Erfahrung
hat heute in ihrer Ausbeutung durch die Perspektive des Empirischen somit ein Eigenverhältnis zur Form eingebüßt und
ist nur mehr die konkrete Benennung des Tatsächlichen.
Wird
das menschliche Selbst, das menschliche Subjekt, dieses formlose Gefühl des
Umgangs im Tatsächlichen als Erfahrung
erfahren können? Für das menschliche Selbst kann Erfahrung nichts anderes
und nichts Höheres mehr sein als Erfahrung; das heißt, Erfahrung muß in seiner
Wahrheit absolut Erfahrung sein, das
menschliche Selbst muß daher auch Erfahrung erfahren können. Zum Erfahren der
Erfahrung jedoch kann das menschliche Selbst nicht durchstoßen, wenn die
einzige Chance der vorhin genannten Punktualität
der Erfahrung die formlose, ständige
gleiche Wiederholung der Erfahrung im
Punktuellen ist. Erfahrung in der bloßen Punktualität ist unerkennbar und
unidentifizierbar, sie ist nur das anonyme Gefühl von Wirklichkeit als
Tatsächlichkeit. Das Wortspiel vom „Erfahrung erfahren“ bedeutet,
daß Erfahrung eine innere Erkennbarkeit und Identität
ihrer selbst verlangt, die sich von der bloß punktuellen Wiederholung absetzen läßt. Das Prinzip der
Erkennbarkeit im Gegensatz zur bloßen formlosen Wiederholung muß für die
Erfahrung eine innere
„Formhaftigkeit“ der Erfahrung sein. Es geht also im Problem
der Erfahrung, das über die Perspektive des Empirischen für das menschliche
Selbst ein Problem der Formlosigkeit geworden ist, darum, das menschliche
Selbst (Subjekt) in jene „Formen“ zurückzuführen, die ein Erfahren
der Erfahrung ermöglichen. Man könnte diese Forderung nach der Möglichkeit des
Erfahrens der Erfahrung auch eine Forderung nach Selbstbewußtsein, Selbstbesitz und Selbstbestimmung nennen; mit diesen Worten haben wir dasselbe
Problem bereits eingangs dieser Überlegungen benannt.
Erfahrung
also, die mehr als das formlose Wirklichkeitsgefühl des Tatsächlichen sein
sollte, muß sich über die bloße Wiederholung hinaus zur Formhaftigkeit erheben. Im Erfahren der Erfahrung muß eine Form
wirksam sein; über diese Form muß allerdings noch weiteres gesagt werden: Die
bloße Punktualität in der Erfahrung gestattet eine unbegrenzte Wiederholung der
Punktualität des Tatsächlichen; damit erweckt das Tatsächliche den Anschein
eines nicht mehr Hintergehbaren, das Tatsächliche kann in seiner Erfahrbarkeit
immer und immer wieder wiederholt werden, das Tatsächliche erweckt damit den
Anschein, es sei das nicht mehr hintergehbare (höchstens wiederholbare)
Kriterium für Wirklichkeit. Für das erkennende Subjekt jedoch bedeutet diese
Punktualität des Tatsächlichen den Ausschluß jeder weiteren Möglichkeit von
Selbstbestimmung; die Selbstbestimmung liegt allein in der Unbegrenztheit der
Wiederholung des Tatsächlichen, die Selbstbestimmung des Subjekts erfreut sich
in diesem Fall nur der schwächsten Weise von Unendlichkeit, nämlich der bloßen
punktuellen Wiederholbarkeit.
Daraus
kann jedoch bezüglich der Bedingung von Erfahrung gelernt werden: Eine
Erfahrung des erkennenden Subjekts, die eine innere Selbstbestimmung des Subjekts sein will, muß in sich selbst
zu einer inneren Unüberbietbarkeit,
zu einer erfahrbaren Weise von innerer Unendlichkeit, führen. Die bloße
Wiederholbarkeit kann nur über eine „Form“ zur Unüberbietbarkeit hin überschritten werden. So verstehen wir
nunmehr das, was mit „erfahrender Erfahrung“ gefordert sein sollte,
als eine innere Unüberbietbarkeit der
Erfahrung, die nicht mehr in der punktuellen Wiederholung des
Tatsächlichen, sondern in der inneren Gestalt der Erfahrung angelegt ist. Diese
Unüberbietbarkeit der Erfahrung muß in einer Form in der Erfahrung anwesend sein; und diese Form kann sich nicht
als eine zufällige Konstellation von Bestimmungen, sondern nur mehr als etwas in sich Unüberbietbares verstehen.
Wer
den mariologischen Kontext dieses Beitrags erwägt, wird sich natürlich fragen,
was denn solche Überlegungen zu Form und Erfahrung mit einer Marien-Theologie
zu tun haben. Was auch hat dies alles zu tun mit der theologischen Anlage der
Enzyklika Redemptor hominis? Eine
verständige Antwort wird sich noch etwas gedulden müssen.[3]
Zunächst
muß die Frage erwogen werden, wie eine Erfahrung des Unendlichen dem Menschen
gelingt. Vorerst wird man auf dem Boden der diskursiven Spekulation von der Erkenntnis des Menschen bezüglich des
Unendlichen sprechen können. Hervorragendes Beispiel der menschlichen
vernunfthaften Erkenntnis des Unendlichen ist z.B. jener Unbewegte Beweger, den
Thomas von Aquin, den Gedanken des Aristoteles folgend, in seiner „Prima
via“[4] als die spekulative Notwendigkeit für die
Wirklichkeit der von uns erfahrbaren Bewegung und Veränderung vorstellt. Denkt
man diesen Unbewegten Beweger in seiner Begrifflichkeit voll aus, wird man ihn
als vollkommene Wirklichkeit (actus
purus), die aus Fülle von Vollkommenheit jede Möglichkeit von Veränderung
abweist, begrifflich darstellen. Ein solcher göttlicher actus purus ist mit
Selbstverständlichkeit ein Unendliches, genauer noch: das schlechthin und in
jeder Rücksicht Unendliche, das infinitum
simpliciter.
Wie
erfahrbar jedoch ist für den Menschen ein solches infinitum simpliciter? Es stellt sich die klassisch gewordene
Frage: finitum quomodo capax infiniti?
Kann und wie kann der Mensch den unendlichen Gott erfahren? Man kann Gott zunächst erkennen und als das notwendige schlechthin Unendliche erkennen.
Wie jedoch kann der Mensch Gott nicht nur erkennen, sondern auch erfahren?
Der
Unterschied von Erkennen und Erfahren
bezüglich Gott sei dargetan. Das Erkennen meint zunächst nur ein Zusammengehen
von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt im Akt des Erkennens, was schon in
der Formel ausgedrückt wird: intelligens
in actu est intellectum in actu. Das menschliche, geistige Subjekt des
Erkennens kann sich nicht im bloßen Verhältnis zu einem Objekt (ob unmittelbar
erkannt oder ob spekulativ erschlossen) zum geistigen Dasein bringen; der
Mensch als geistiges Subjekt verlangt überdies nach Selbstbestimmung. Man kann
es noch genauer sagen: Es ist die Wahrheitsfähigkeit
des Menschen, die wiederum in der Selbstbestimmung des Menschen ruht. Die
Wahrheit hat wesentlich mit der Selbstbestimmung des Menschen zu tun. Dies
zeigt sich bereits in der spekulativen Betrachtung der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus; Wahrheit
ist demnach nicht einfach ein bloßes Übereinstimmen von Sache und Erkenntnis;
Wahrheit ist Wahrheit schließlich dadurch, daß dieses Übereinstimmen im Bewußtsein von Wahrheit stattfindet;
Bewußtsein wiederum ist eine unaufhebbare Unüberbietbarkeit des menschlichen
erkennenden Subjekts; Bewußtsein ist damit eine Selbstbestimmung des Menschen,
die sich in sich selbst trägt, die nicht überschritten und nicht mehr
hintergangen werden kann.
Diesen
wenigen argumentativen Schritten läßt sich bereits entnehmen, daß die
Wahrheitsfähigkeit des Menschen etwas mit Selbstbestimmung zu tun hat; ja, es
folgt überdies daraus, daß eine wahre
(menschliche) Erkenntnis in ihrem Inneren eine Erfahrung sein muß. Denn, als bloße Übereinstimmung vom erkannten
Ding und vom erkennenden Menschen ist diese Übereinstimmung noch in keine
Unüberbietbarkeit eingebracht und kann sich daher noch nicht Charakteristiken
der Wahrheit erfreuen, die allesamt ein Ausdruck von Selbigkeit der Wahrheit
sind und etwas Absolutes gegenüber allem Bedingten ausdrücken.
Man
könnte nunmehr aussagen, daß jede subjektiv-objektive Übereinstimmung (adaequatio) dadurch Wahrheit wird, daß diese Übereinstimmung in der Unüberbietbarkeit
einer geistigen Selbstbestimmung offenbar wird und sich dadurch als Wahrheit zeigt. Man kann also das Gelten und das
Werden von Wahrheit nicht einfach einem bloßen ausgleichenden Wechselspiel von
Subjekt und Objekt, nicht einfach einem Fortentwickeln der Erkenntnisinhalte in der bloßen Übereinstimmung
von Subjekt und Objekt überlassen. Das Moment der Erfahrung im wahren Erkennen
ist genauso wesentlich wie das Subjekt-Objekt-Gefüge des Erkennens; die Selbstbestimmung
als eine Grundweise der Erfahrung mag zunächst wie eine stille, lautlose
Dimension des wahren Erkennens erscheinen, die man oberflächlicherweise mit der
Zufälligkeit des gerade eben erkennenden Subjekts verwechseln könnte. Es ist
jedoch die Unüberbietbarkeit des
Bewußtseins als einer Weise der Selbstbestimmung, die die Wahrheit aus der
Zufälligkeit des bloß inhaltlichen
Ablaufs (= bloße Übereinstimmung) herausnimmt und die Wahrheit als nicht mehr überbietbar sich zeigen läßt.
Was
also ist der Mensch, in dem die Wahrheit auf solche Weise sich zeigt? Die
Enzyklika Redemptor hominis drückt
diese Unüberbietbarkeit des Menschen, wodurch der Mensch eigentlich erst
wahrheitsfähig ist, mit der Feststellung aus, daß jeder Mensch einmalig und
unwiederholbar ist.[5] Diese Ausdrucksweise der Enzyklika mag zunächst wie
eine Selbstverständlichkeit angesichts der Todesangst des Menschen sein. Diese
Aussage zeigt jedoch auch gleichzeitig, daß der Mensch den Grund aller Wirklichkeit in sich hält, daß es nichts Wirkliches
in der Welt geben kann, was am Menschen vorbeiginge, daß kein Erkenntnisinhalt
eine unabhängige Weise von Wahrheit über oder neben dem Menschen findet. Es
gibt nichts Wirkliches ohne den Menschen, der Mensch selbst hinwieder kann sich
selbst an nichts anderem weiterverstehen, wenn nicht an sich selbst: der Mensch
ist einmalig und unwiederholbar, in diesem einmaligen und unwiederholbaren
Menschen vollzieht sich die unüberbietbare Selbstbestimmung, die die
Wirklichkeit als Wahrheit sich zeigen
läßt. Die Erfahrungsfähigkeit des Menschen besteht im Vollzug seiner
Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit, die den Menschen immer wieder an sich
selbst zurückweist und dem Menschen damit schließlich nichts anderes als die
Wahrheit gestattet.
Zweifellos
werden solche Aussagen, wenn sie unverständig gehört werden, subjektivistisch
und solipsistisch klingen. Verstehen lassen sich jedoch diese Aussagen dann,
wenn man darin versteht, daß der Mensch im letzten nur mit der Wahrheit seines Menschseins umgehen kann
und umgehen darf. Diese Aussagen gestatten es also nicht, daß der Mensch mit
seinem Menschsein tut, was er will; sie gestatten es nicht, daß der Mensch mit
sich selbst in Willkür und Zufall verfährt und sich beliebige Wahrheiten
verschafft und macht. Diese Aussagen meinen vielmehr, daß dem Menschen nur die
Wahrheit gestattet ist, das heißt, daß dem Menschen in der Bewältigung der
Wirklichkeit nur das Unüberbietbare
gestattet ist, in welchem er wahrheitsfähig und wahrheitsoffen ist.
Unüberbietbarkeit, Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, Wahrheitsfähigkeit sind
also die kennzeichnenden Worte dafür, das der Mensch allein erfahrungsfähig ist, weil sich nichts am Menschen
vorbeiführen läßt, weil sich alles am Menschen und durch den Menschen und im
Menschen als Wirklichkeit entscheidet.
Es
ist also der gewissermaßen in neuem Licht erscheinende Begriff des
„Unüberbietbaren“, der die Wahrheit des Menschsseins aufschließt.
Nach scholastischer Terminologie wäre dieses Unüberbietbare das infinitum secundum quid, das wohl vom infinitum simpliciter zu unterscheiden
ist, das aber dennoch in der jeweils
bedeuteten Dimension unüberbietbar,
in diesem gewissen Sinn unendlich
ist.
Vorhin
hatten wir den Unterschied von Gott „erkennen“ und Gott
„erfahren“ in die Diskussion gebracht. Daraus entwickelte sich die
Einsicht, daß die Wahrheit wesentlich etwas mit der Erfahrung und
Selbstbestimmung des Menschen zu tun hat, daß die bloße Übereinstimmung von
Erkennendem und Erkanntem erst dann die Würde von Wahrheit erreicht, wenn dem
Menschen die Selbstbestimmung in der Unüberbietbarkeit des Bewußtseins gelingt. Diese Unterscheidungen und Einsichten sind
auch auf die Erkenntnis des Menschen bezüglich Gott anzuwenden. Wenn es gewisse
Wege des spekulativen Denkens auf Gott als den Ersten Unbewegten Beweger, als
die absolute Notwendigkeit usw. gibt und daraus der Begriff Gottes als infinitum simpliciter entwickelt wird,
wird eigentlich die Unüberbietbarkeit auf der begrifflichen-inhaltlichen Ebene gesucht. Des Menschen
Gotteserkenntnis, die sich in einem infinitum
simpliciter zu höchstem Inhalt
erheben läßt, wird bei diesem inhaltlich
voranschreitenden Erkennen der Existenz Gottes nicht auf des Menschen
Selbstbestimmung befragt. Die Wahrheit dieses Erkennens wird ausschließlich in
der Dimension des erkannten Inhalts
vermutet; das Moment der Erfahrung entfällt bei diesem Versuch, Gott nur in der
Unüberbietbarkeit des Begriffs und Inhalts zu denken. Die
„Wahrheit“ dieses Gottesgedankens liegt für den Menschen im
absoluten und unbegrenzten Ausdenken einer Unendlichkeit Gottes. Diesem
erkenntnishaften und ausdenkenden Vorgang mit dem Ziel einer gedachten,
inhaltlichen Unendlichkeit Gottes kann kein Verfahrensfehler nachgewiesen
werden. Dennoch steht die vernunfthaft voranschreitende Theologie an diesem
Punkt immer wieder vor der enttäuschenden Tatsache, daß wohl eine spekulative
Leistung erbracht wurde, daß aber dennoch der erkannte unendliche Gott von den
Menschen oft nicht anerkannt wird. Überdies läßt sich in diesem inhaltlich unendlich gedachten Gott ohne
Mühe der argumentative Duktus des sogenannten „ontologischen
Gottesbeweises“ wiedererkennen, der in der durchgedachten Identität des
„größten Größten“ die Notwendigkeit der Existenz Gottes gedacht
haben will.
Wenn
man es genau nimmt, ist das inhaltliche Ausdenken
des Gottesbegriffs zum infinitum
simpliciter - welcher Weg dafür auch immer beschritten werden mag - der von
seinem inneren Duktus her ausschließende Denkvorgang; ausgeschlossen wird gerade darin jede Erfahrung Gottes, sofern Erfahrung etwas mit der Selbstbestimmung
des Subjekts zu tun hat. Wir müssen also auch auf des Menschen Gotteserkenntnis
die Feststellung anwenden, daß das Gotterkennen des Menschen über eine bloße
Übereinstimmung von Subjekt und Objekt hinweg zur Wahrheit in Selbstbestimmung nur gelangt, wenn jene Dimensionen
thematisiert werden, in denen der Mensch das infinitum als innere
Unüberbietbarkeit seines Menschseins und menschlichen Tuns vollziehen kann.
Bislang
haben wir das Bewußtsein des Menschen mit Blick auf die Wahrheit des
subjektiv-objektiven Erkennens als eine solche Unüberbietbarkiet und
gleichzeitig Erfahrungsfähigkeit des Menschen dargestellt. Nunmehr haben diese
bisherigen Überlegungen sich an der Forderung nach der Erfahrung (über das
Erkennen hinaus) Gottes zu bewähren.
Mit der Erfahrung als der Überwindung des bloßen Erkennens Gottes durch den
Menschen ist keineswegs einer A-rationalität das Wort gesprochen. Es geht nicht
um irrationale oder sentimentale Erfahrungen, die im Gegensatz zum objektiven
Duktus des metaphysischen und spekulativen Denkens verlaufen. Es geht im
Erfahren Gottes darum, daß dem Menschen angesichts der Totalität der
Wirklichkeit Gottes dennoch die Unüberbietbarkeit
von Selbstbestimmung gelingt und gleichzeitig das Erkennen Gottes durch den
Menschen zur Wahrheit auf dem Grund
der Selbstbestimmung und der Erfahrung wird. Das heißt, daß über die Forderung
nach „Wahrheit“ in der Gotteserkenntnis immer schon eine
wesentliche Betroffenheit des Menschen eingebracht ist, die nicht in der
inhaltlich-objektiven Ausgestaltung des Gottesbegriffes auszutragen ist, die
vielmehr in der Frage besteht, ob eben der Mensch geradezu in der
Unüberbietbarkeit seines Menschseins die „Wahrheit“ der
Gotteserkenntnis in Erfahrung behält.
II.
An
dieser Stelle sei eine Aufhebung des bloß spekulierenden Denkens gestattet; es
sei gestattet, nunmehr die bislang freigelegten Verhältnisse im Unterscheiden
von Grotteserfahrung und Gotteserkenntnis in geoffenbarten theologischen, Verhältnissen zu erproben. Es soll in
theologischer Erwägung nunmehr über jene Wahrheitsfähigkeit und
Erfahrungsfähigkeit des Menschen gesprochen werden, die das Unüberbietbare des
Menschseins mit der Wirklichkeit Gottes vereint, die in „Erfahrung“
das Menschsein und das Sein Gottes zu jener „Wahrheit“ werden läßt,
in der nichts mehr „vor“, „neben“ oder
„gegen“ bezüglich des Menschseins und des Seins Gottes unbewältigt
und ungedacht stehen bleibt. Es gibt kaum ein theologisches Werk, in dem das
Unüberbietbare des Menschseins so grundlegend zur Sprache kommt, wie dies bei
Johannes Paul II. in der Enzyklika Redemptor
hominis (RH) der Fall ist. Der theologische Schlüsselsatz für die Bewertung
des Menschen und für die Ausagen über die Erlösung durch diese Enzyklika ist
ohne Zweifel die in RH 13 aufgenommene Aussage des II. Vatikanums: „Hominem … in terris solam
creaturam esse quam Deus propter seipsam voluerit; der Mensch ist auf Erden die
einzige Kreatur, die Gott um ihrer selbst willen wollte.“ [6]
Dieser
theologische Satz über Gottes Wollen in der Schöpfung ist für das spekulative
System der katholischen Theologie sehr ungewöhnlich. Denn es widerstreitet aus
vielfachem Grund dem Wesen Gottes, sich durch ein Geschöpf in der Schöpfungstat
bestimmen zu lassen; Gott würde dadurch gewissermaßen von außen bestimmt, was
sich mit seiner Unveränderlichkeit, Ewigkeit, Einfachheit usw. nicht
vereinbaren läßt. Wenn nun aber die Rede vom Menschen als von der einzigen von
Gott um ihrer selbst willen gewollten
Kreatur ist, so wird in Gottes Wollen eine Bestimmung von außen, von der
Kreatur her, eingeführt. Man könnte vielleicht diese ungewöhnliche Aussage von Gaudium et Spes in die theologische
Systematik dadurch zurückbinden, daß Gott eben eine einzige Kreatur schafft, die
gegenüber allen anderen Geschöpfen
alle Finalität und Ausrichtung in sich selbst hält oder daß sich Gott eben eine
solche Kreatur ausgedacht und ins Dasein geschaffen hat. Im Resultat würde dies
bedeuten, daß Gottes Allmacht und Wollen
die Schöpfung mit der kühnen Konstruktion des Menschen, der alle Finalität und
alle Bedingungen in sich selbst hält, krönen und abschließen wollte.
Man
kann natürlich das hier auftretende spekulative Problem, daß Gottes Tun sich
vom Menschen bestimmen läßt (propter
seipsam voluerit), dadurch entschärfen, daß man festlegt: Gott will es in
seinem allmächtigen Wollen eben so.
Wenn man jedoch diese Aussage als eine Wahrheit des Menschseins, die dem
Menschen innewohnt, gelten läßt, dann öffnet man Gottes Wesen in ganz neuen
Verhältnissen, die Gott eigentlich nur gegenüber dem Menschen verwirklicht.
Damit würde der Mensch herausgehoben aus der allgemeinen Schematik der Kausalität, in der der Mensch zusammen
mit den übrigen Kreaturen verstanden wurde. Solange Gott, der den Menschen schafft,
als die höchste, erste und letzte Ursache verstanden wird, wird man in
theologischer Systematik eigentlich nur formulieren dürfen, daß Gott alle
Kreatur - auch den Menschen - um Gottes
selbst willen wollte (es dürfte also nicht heißen: propter seipsam, sondern: propter
seipsum). Solange also das bloße Verhältnis der Kausalität zwischen Gott und Kreaturen zur Anwendung kommt, wird
der Gegensatz zwischen Gott und dem Menschen in der philosophischen und
theologischen Spekulation so ausgetragen werden müssen, daß alles von Gott
ausgeht und alles sich in die Identität Gottes (propter seipsum) zurückbeziehen lassen muß.
Wenn
wir nun noch einmal Bezug nehmen auf die vorhin dargestellte Wahrheits- und
Erfahrungsfähigkeit des Menschen, verläuft das kausal vorgestellte Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen so,
daß dem Menschen nicht die Möglichkeit einer Selbstbestimmung verbleibt, weil
das kausale Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen ausschließlich inhaltlich ausgetragen wird.
Selbstbestimmung und Unüberbietbarkeit bleiben dem Menschen dabei versagt; was Wahrheit zu sein beansprucht, verläuft
an der Selbstbestimmung des Menschen vorbei; statt einer Erfahrung Gottes auf dem Grund der Selbstbestimmung handelt es sich
bloß um begrifflich-inhaltliche Totalisierungen.
Man mag also das kausale Verhältnis zwischen Gott und Kreatur noch so total,
radikal und umfassend denken, der größte Inhalt allein bringt in der
Gottesfrage keine Erfahrung Gottes und keine Betroffenheit des Menschen.
In
der Formel solam creaturam quam Deus
propter seipsam voluerit wird in gewissem Sinn von der Daseinsdeutung der
Kreatur und des Menschen durch die Kausalität
nunmehr Abstand genommen; in dieser Formel wird es ungleich deutlicher, daß
Gott das Selbst, die Identität, die Selbstbestimmung, ja, die Unüberbietbarkeit
des Menschen bejaht. Diese neuartige Formel sollte daher weder wie eine
Provokation des bisherigen theologischen Systems noch wie ein theologischer
Lapsus betrachtet werden. Das propter
seipsam ist nicht einfach eine Korrektur des propter seipsum; es ist vielmehr die Eröffnung einer neuen
Dimension, die sich auf die Grundlagen der Gotteserfahrung als der
selbstbestimmenden „Wahrheit“ der Gotteserkenntnis ausrichtet.
In
der theologischen Spekulation ergäbe sich aus der Formel propter seipsam ein weites Feld von Einsichten in die
Selbstbestimmung Gottes durch den Menschen. Eine Frage zum Beispiel wäre in
diesem Feld die Frage, ob denn Gott sich von Ewigkeit her bereits auf seine
Menschwerdung in Jesus Christus festgelegt hat, so daß bereits in aller
Schöpfungstat das propter seipsam für
den Menschen sich zeigt und letztlich bereits die Offenbarung des Wesens Gottes selbst ist. Damit wäre für jede
Offenbarung Gottes das Menschsein gewissermaßen die Bedingung für das
Offenbarsein; es wäre das Menschsein (propter
seipsam) genau jenes Medium, in dem eine in der Geschichte ergangene
Wortoffenbarung sich zur Instanz des von
Gott Geoffenbarten erhebt. Erst ein Wort, das am Unüberbietbaren des
Menschseins zur Bedeutung und zur Verstehbarkeit kommt, rechtfertigt sich als geoffenbarte „Wahrheit“. Eine
Rechtfertigung der Offenbarung als Offenbarung Gottes durch den Duktus und
durch die Besonderheit der historischen
Abläufe, in denen das Wort Gottes auftritt, ist im letzten eine bloß inhaltliche Rechtfertigung, die den
gleichen Problemen unterliegt wie die vorhin aufgezeigte rein
inhaltlich-begriffliche Gotteserkenntnis. Eine solche Rechtfertigung historischer Art ist eine Rechtfertigung
in verfügbaren Ursachen, das heißt, eine „kausale“
Rechtfertigung, die von der Maxime ausgeht, daß alles, was im Wort der Heiligen
Schrift als bedeutsam verstanden wird und je verstanden werden kann, von Ursachen irgendwelcher Art (kulturellen,
historischen, soziologischen, psychologischen, linguistischen usw.) her
wissenschaftlich darzutun und zu interpretieren ist. In dieser kausalen
Vorgangsweise läßt sich zum Beispiel das wissenschaftliche Programm in weiten
Feldern der Bibelwissenschaften erkennen, die das Schriftwort in den
veschiedensten, aber ausnahmslos kausalen
Erklärungsverhältnissen darstellen und damit gleichzeitig jede theologische oder metaphysische Qualität
vom Schriftwort selbst fernhalten und ausschließen, was sich zum Beispiel darin
zeigt, daß ein möglicher göttlicher Ursprung des Schriftwortes, eine besondere
Irrtumslosigkeit u. a. m. im Vorgehen dieser Bibelwissenschaften völlig
unvermittelt und unberücksichtigt bleiben.
Es
bleibt die Frage bestehen, ob in einer historisch-kausalen Konstruktion die
Instanz der Offenbarung ausreichend
darstellbar ist. Und es ist schließlich der Anspruch von Wahrheit in der
Offenbarung, der die historisch-kausale Konstruktion als ungenügenden Grund für
diese „Wahrheit“, als
Konstruktion der historischen Zufälligkeiten demaskiert, sodaß der Mensch nach
einem neuen, immer anwendbaren und
immer verfügbaren Kriterium bezüglich Offenbarung verlangt.
Und
das einzige Moment, das sich der Zufälligkeit des Kausalen und des bloß
Historischen entzieht, ist das Menschsein in jener Dimension, in der sich das
Selbstbestimmende und Unüberbietbare des Menschseins zeigt. Das Wort Gottes
zeigt sich weder auf bloßen steinernen Tafeln noch in bloßen
Bewußtseinsvorgängen der Urgemeinde als Offenbarung;
das Wort Gottes wird sich in jenem Augenblick als Offenbarung zeigen, in dem es
im Unüberbietbaren des Menschseins, in der Selbstbestimmung des Menschen, sich
als „Wahrheit“ zeigen kann. In dieser Perspektive läßt sich
verstehen, was Redemptor hominis (n.
10) zum Menschen sagt, der in seiner durch Christus
in der Erlösung zu sich gebrachten Unüberbietbarkeit zum Kriterium alles Göttlichen,
Übernatürlichen, Erlösten und Geoffenbarten wird: Homo igitur, qui funditus se perspicere cupit - non tantum secundum
quasdam subitarias, imperfectas, saepe exteriores, immo etiam specie sola
apparentes rationes aut regulas suae vitae - debet sese ad Christum conferre
cum sua anxietate et dubitatione, cum sua infirmitate et improbitate, cum vita
sua et morte. Is debet quasi cum toto quod ipse est, intrare in eum; debet
„asciscere“ atque assumere sibi omnem veritatem Incarnationis et
Redemptionis, ut rursus se reperiat. Qui
intimus Processus si in illo perficitur, homo fructus edit non sola Dei
adoratione, verum etiam magna sui ipsius admiratione. Quantum enim momentum ac
pretium habere debet homo in conspectu Creatoris, si „talem ac tantum
meruit habere Redemptorem“, si Deus dedit „Filiium suum
Unigenitum“, ut homo „non pereat sed habeat vitam aeternam“?
Re quidem vera miratio maxima illa de pretio ac dignitate hominis nuncupatur
Evangelium id est Bonus
Nuntius. Vocatur item Christianismus.[7]
Was
also nennen wir das Evangelium, die Frohbotschaft Gottes? Für Johannes Paul II.
bleibt es nicht beim bloßen Wort, bleibt es nicht bei historischen
Zusammenhängen. Es ist die Instanz des Menschseins, die das Wort Gottes zum
Evangelium, letztlich zur Offenbarung erhebt: Fürwahr jenes größte Staunen über den Wert und die Würde des Menschen
wird Evangelium genannt, das heißt, Gute Botschaft. An nichts anderem als
an der Instanz des Menschseins läßt sich jene göttliche Tiefe der Offenbarung
ermessen, die aus dem menschlichen Wort der Schrift die Offenbarung des Wesens
Gottes werden läßt. Um dies zu verdeutlichen, sei mit aller gebotenen Umsicht
diese ungewöhnliche Aussage gestattet: Spräche Gott seine Worte in die Welt,
ohne diese am Unüberbietbaren des Menschseins, am Sinn, an der Würde des
Menschen, an der Selbstbestimmung des Menschen zur „Wahrheit“
kommen zu lassen, wären diese Worte Gottes keine „Offenbarung“,
sondern höchstens objektiv-inhaltliche Richtigkeiten.
Zu
den Grundschwierigkeiten der heutigen Theologie gehört sicherlich eine
theologisch fundierte Darstellung der Offenbarung. Es kann nicht ausreichen,
auf einen bloß positiven Willensakt Gottes zu rekurrieren, daß Gott eben spricht und offenbart. Für ein solchermaßen
vorgestelltes Offenbarungswort Gottes ist de facto im Bereich des Menschen und
der Welt überhaupt nichts an Entsprechendem vorbereitet. Es läßt sich auch
keinerlei inneres Kriterium für das „Offenbarende“ in Gottes
Wort zum Ausdruck bringen, wenn man sich in die bloße und zufällige Beteuerung
flüchtet, Gott habe eben sprechen gewollt. Einem so zufällig gesprochenen Wort
Gottes kann nur der Zufall Zeugnis geben; das Zeugnis des Zufalls jedoch ist
kein Zeugnis des Geistes.
Die
„Offenbarung“ Gottes jedoch hat notwendig das Zeugnis des Geistes; wofür sonst, wenn nicht für die Offenbarung
Gottes, sollte es das Zeugnis des Geistes geben? Für Johannes Paul II. hat der
Mensch im Geheimnis der Menschwerdung und Erlösung „sich
wiederzufinden“ (rursus se
reperiat). Und dieses Sich-Wiederfinden des Menschen steht im Zeugnis des
Geistes, der das Kind-Gottes-Sein des Menschen dem Menschen bezeugt. Immer
wieder kommt in diesem Zusammenhang der Papst auf den Text des Römerbriefes (8.
Kapitel) zurück.[8] Das Zeugnis des Geistes wendet gewissermaßen das
offenbarende Tun Gottes zurück an die Unüberbietbarkeit des Menschen, die darin
besteht, Kind des göttlichen Vaters
in der Fülle jenes Menschseins, das Christus in seiner Wahrheit dem Menschen
voll kund tut, zu sein.[9] Mit der Instanz des Menschseins, durch die Gottes
Wort sich in der Wahrheit der Offenbarung zeigt, verbindet sich also das
Zeugnis des Geistes, das nichts anderes als eine erfahrende Zuführung des
Menschen an seine unüberbietbare Wahrheit ist.
Es
wäre ein verhängnisvolles Mißverständnis, wollte man mit Hegel in der
Offenbarung Gottes nichts anderes als eine aus dem Zwang der vollen Identität
Gottes sich notwendig ergebende Entfremdung Gottes in Weltliches, Menschliches
und Geschichtliches sehen. Im Menschsein als in der Instanz der Offenbarung
sollte jenes Unüberbietbare gesehen werden, in dem Gott zum (offenbarenden)
Wort kommt; nicht jedoch sollte der Prozeß der Offenbarung am Menschen
vorbeigeführt werden, sodaß der Mensch schließlich aus den Gestalten der
Geschichte sich über Offenbarung und Erlösung vergewissern müßte. Ein
spekulatives System, das einmal am Menschen vorbeigeht, findet den Menschen
nicht wieder, auch nicht am Ende eines langen dialektischen Prozesses. Und so
wird zum Beispiel bei Feuerbach das als menschliche Projektion an den Himmel
verkannt, was am Menschen zunächst dialektisch vorbeigeführt wurde und nicht in
der Unüberbietbarkeit des Menschseins „Wahrheit“ werden konnte. Wer
am Menschen, dialektisch oder deduktiv, vorbeidenkt, der verstößt gegen das
Zeugnis des Geistes.
Noch
einmal sei auf die schon vorhin getroffene Unterscheidung von Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung hingewiesen. Bei der
Gotteserfahrung für den Menschen handelt es sich nicht um unsagbare Gefühle und
Erlebnisse, die eben weitab von einer Gotteserkenntnis liegen oder dieser
vielleicht sogar entgegengesetzt sind. Die Erfahrung im Gegensatz zur bloßen
Erkenntnis differenziert sich vielmehr so: in der Erfahrung wird die Selbigkeit des Menschen, die Identität,
nicht einfach als punktuelle (und zufällige) Tatsache konstatiert; in der
Erfahrung zeigt sich vielmehr die Selbigkeit des Menschen als Unüberbietbarkeit, als in der
Selbstbestimmung vollziehbares Unendliches;
in der Terminologie der Scholastik: Erfahrung ist die Aktualität des infinitum secundum quid.
Vom
Menschen kann man in der Gottesfrage - bei Einhaltung der richtigen Perspektive
- beides sagen: der Mensch ist ein Endliches, der Mensch ist ein Unendliches.
Endliches und Unendliches benennen dabei nur den Menschen und nichts anderes:
In seiner Tatsächlichkeit und Vorhandenheit ist der Mensch ein Endliches, das
mit vielen Dingen und mit vielen anderen Menschen den Raum der Wirklichkeit
teilen muß. In seiner Unüberbietbarkeit, die sich vor allem in der Nichthintergehbarkeit
und in der Nichtübertreffbarkeit der personalen geistigen Akte manifestiert,
ist der Mensch jedoch ein Unendliches, nicht ein schlechthin Unendliches,
sondern ein Mensch-Unendliches (infinitum
secundum quid).
Auf
dem Grund dieser Unterscheidungen läßt sich nunmehr folgende Aussage tun: Der
Mensch kann endlich sein und Gott erkennen, der Mensch jedoch muß unendlich sein, um Gott zu erfahren. Diese etwas sonderbare
kontrastierende Formel möchte nichts anderes bedeuten als die verschieden notwendige
Besinnung auf den Menschen in der Gottesfrage. Wenn die Gottesfrage nicht am
Menschen außen vorbeigeführt werden kann, dann hat eben der Mensch die
verschiedene Möglichkeit, entweder als Endliches
das Medium aller inhaltlichen
Objektivität zu sein oder als Unendliches
Gott in der Weise der Selbstbestimmung
zur „Wahrheit“ kommen zu lassen. Und es wird nur in der
Besinnung auf die Unendlichkeit und Unüberbietbarkeit des Menschen gelingen,
mit Berechtigung in personaler Weise
von Gott zu sprechen. Ohne die Einbringung der Unüberbietbarkeit des Menschen
wird es nicht gelingen, Gottes personales Wesen zu erweisen. Das bloße Erkennen mag selbst von einem
„größten Größten“ (id quo
maius cogitari nequit) sprechen und diesem Größten sogar das Existieren
zusprechen; das größte Größte jedoch wird nie zum Personalen, solange nicht der
Mensch in sich selbst die Unüberbietbarkeit des Menschseins gegenüber diesem
Größten zum Medium der Erfahrung macht. Das menschliche Erkennen mag im
Gedanken das Größte ersinnen, das
absolute Unendliche Gottes jedoch muß
in der Unendlichkeit des Menschen erfahren werden.
III.
Quid autem de
Maria? Was hat jedoch dies Gesagte
mit Maria, mit einer theologischen Mariologie zu tun? Überlegen wir dies: Wann
wird eigentlich ein Satz ein theologischer
Satz? Wenn wir sagen: Ein Jesus von Nazareth wurde gekreuzigt, eine Maria lebte
in Nazareth, so sagen wir im strengen Sinn noch keine theologischen Sätze. Eine
theologische Qualität gewinnen diese Sätze, wenn wir sagen: Jesus von Nazareth
ist für alle Menschen am Kreuz gestorben, Maria war Gott gegenüber absolut
gehorsam. Der theologische Satz ist eigentlich erst dann ein theologischer,
wenn er mit dem Unüberbietbaren in irgendeiner Weise umgeht. In den
vorausgehenden Erwägungen haben wir darzutun versucht, daß Gottes Tun, daß
Gottes Offenbarungen in die Dimension der „Wahrheit“ dann für uns
gehoben ist, wenn sich diese im Unüberbietbaren des Menschseins zeigt. Und
gegenüber der Heiligen Schrift tut die Theologie nichts anderes, als zunächst
scheinbar zufällige und historische Tatbestände (zum Beispiel ein Jesus aus
Nazareth wurde gekreuzigt) in die Unüberbietbarkeit der menschlichen
Selbstbestimmung zu bringen. Theologie ist also keine bloße Verallgemeinerung von einzelnen Tatbeständen zu allgemeineren
Beschreibungen oder Regeln; durch bloße Verallgemeinerung wird ein Einzelsatz
noch kein theologischer Satz. In einem Einzelsatz läßt Theologisches sich nur
zeigen, wenn das Unüberbietbare des Menschseins thematisiert werden kann und
der Inhalt des Einzelsatzes in dieser Unüberbietbarkeit aufrecht erhalten
werden kann. In diesem Sinn werden viele Einzeltatsachen, die sich nicht mit
dem Unüberbietbaren in Verbindung bringen, aus dem Rahmen des Theologischen
herausfallen und theologisch belanglos sein. Was hingegen sein Verstehen auf
dem Grund der Selbstbestimmung im Menschsein verlangt, das wird theologisch
relevant und damit offenbar.
Die
theologische Reflexion, die religiöse Erfahrung der Menschen und die kirchliche
Tradition der Frömmigkeit haben über Maria vieles gesagt und genannt. Wer dies
zu verstehen weiß, der wird die religiöse und die theologische Sprache über
Maria, die Gebete, die Lobpreisungen, die Weihen der Menschen an Maria und
Marias zentrale Stellung im religiösen Leben vieler Glaubender nicht als
Maßlosigkeit des religiösen Sprechens und Empfindens deuten. Nicht das Maßlose
wird an Maria gesehen, es ist eigentlich das Unüberbietbare, das in allem über Maria Gesagten aufleuchtet. Und
auch die theologische Mariologie ist
im Grunde nichts anderes als die theologische Demonstration der Unüberbietbarkeit des wahren Menschseins.
Ist
Marienglaube, ist Marienfrömmigkeit, ist Mariologie wirklich dann so
subjektiv-willkürlich und so theologisch nebensächlich, wie dies heute mancher
Eiferer für eine aufgeklärte Theologie beteuert? Solche Beteuerungen können nur
von jenen kommen, die in der Theologie die Wahrheit des Menschseins für
unerheblich halten und die sich nach historisch-kausaler Art eine Theologie
machen, die eigentlich nichts anderes als eine untaugliche Naturwissenschaft
mit verstreuten moralischen Imperativen ist.
Mit
Maria meint der katholische Glaube, gleichsam per modum unius, die unerschöpfliche Dimension jener religiösen Erfahrung, die nur im Unüberbietbaren
des wahren Menschseins sich zeigen kann. Marias wahres Menschsein ist nicht
mehr übertreffbar, nicht mehr auf anderen Grund zurücknehmbar. Marias wahres
Menschsein ist das ideale Medium der Offenbarung. Maria ist Mittlerin, die
reinste Vermittlung, weil der unüberbietbare wahre Mensch.
Wir
erleben heute oft Theologien der verallgemeinernden
Formalisierungen im Bereich des Historischen, des Soziologischen, des
Psychologischen und des Politischen. Es ist nur eine „schlechte
Unendlichkeit“, die solche Verallgemeinerungen in ihren Anstrengungen
erreichen; am Unüberbietbaren des wahren Menschseins jedoch gehen sie vorbei.
In diesen heutigen Theologien werden viele (empirische) Erfahrungen zur Verallgemeinerung gebracht, aber daraus
wird keine Erfahrung in
Selbstbestimmung und Unüberbietbarkeit. Maria wird in solchen Theologien nur
eine pädagogische Figur oder bestenfalls ein Thema der Frauenfrage sein. Und
wenn der katholische Glaube in seiner Theologie und in seiner Frömmigkeit Maria
in eine einzigartige Mitte stellt, so ist dies kein (außerökumenisches)
katholisches Sondergut, sondern das unleugbare Zeichen für die Notwendigkeit
einer immer wieder sich vertiefenden
Erfahrungskultur im Religiösen. Eine neue Bedeutung könnte in vielen Namen
sich dartun: Maria, Sitz der Weisheit, Maria ist nicht die Weisheit, sie ist
die „Erfahrung“ der Weisheit; Maria, Mutter der Kirche, Maria ist
nicht die Kirche, sie ist die „Erfahrung“ der Kirche. Sicher sollte
man mit solchen Benennungen Maria nicht interpretierende Gewalt antun; wer
jedoch den Zusammenhang unserer Überlegungen im Auge behält, der wird im Wort
„Erfahrung“ das Innigste und
Unüberbietbare der menschlichen und der geschaffenen Wirklichkeit
mitbedenken. Maria wäre damit keineswegs aus ihrer ontischen theologischen
Position verdrängt, Maria ist damit vielmehr im Maß alles Menschseins das schlechthin Unüberbietbare geworden.
Für
Johannes Paul II. ist Maria jene menschliche Selbstbestimmung, die in vollster Wahrheit des Menschseins gelingt. Damit wird Maria zum
vollkommensten Medium, in dem Offenbarung „Wahrheit“ (im Sinn der
Selbstbestimmung) ist, in dem die gute Tat des Menschen „gottgefälliges
Werk“ ist: Mittlerin der Gnade.
Erfahrung
gelingt nur in jener Wahrheit des
Menschseins, die unüberbietbar
und auf nichts anderes zurücknehmbar
ist. Es kann also nicht um das schale Menschsein eines repräsentativen
Querschnitts in der sogenannten Gesellschaft gehen; es kann auch nicht um das
Alltägliche des Menschseins gehen, das sich heute zuweilen in einer
vermeintlichen oder wirklichen Mehrheit von Denkenden, Meinenden, Wählenden,
Kaufenden oder Verbrauchenden aufzuwerten versucht. Es geht nicht um das Verallgemeinerte des Menschseins, wie diese Verallgemeinerung auch
immer zustande kommen mag; es geht vielmehr um das Unüberbietbare und auf
nichts Zurücknehmbare des Menschseins.
Für
Johannes Paul II. ist die Liebe der
eigentliche Weg des Menschen, die Wahrheit seines Menschseins - unabhängig von
jenen Verfälschungen des Menschseins, die sich aus den Kräften der bloßen Verallgemeinerung
ergeben könnten - zu begreifen und zu ergreifen. Die Liebe ist der Weg der
begriffenen und gelebten Unüberbietbarkeit des Menschseins. Und auf diesem Weg
der Liebe konnte Christus der Erlöser, den Menschen erlösen, indem er dem
Menschen das Menschsein vollkommen kundtat: Homo
sine amore vivere nequit. Sibimet manet quiddam, quod incomprehensibile est,
eiusque vita sensu privatur, nisi amor ei praebetur, nisi invenit amorem, nisi
amorem experitur suumque efficit, nisi penitus amorem participat. Ob hanc
omnino causam Christus Redemptor, ut iam dictum est, hominem ipsi homini plene
manifestat. Et illa est - si ita quidem
loqui licet - humana ratio et proprietas mysterii Redemptionis. In ea vicissim
homo magnitudinem suae humanitatis et dignitatis et pretium proprium denuo
detegit. In Redemptionis mysterio homo
iterum „exprimitur“ et aliquo pacto iterum creatur Profecto ipse iterum creatur![10]
Die
Erlösung des Menschen stellt sich für
Johannes Paul II an jener Wahrheit des Menschseins dar, die in der vollkommenen
Erlöserliebe des menschgewordenen Gottessohnes zu einer neuen Bestätigung,
Schöpfung und Freiheit kommt. Der erlöste Mensch wird unüberbietbar und auf
nichts anderes zurückgenommen als auf die Wahrheit seines Menschseins; die
Wahrheit des Menschseins und die Offenbarung dieser Wahrheit in der reinen
Erlöserliebe Christi spannt sich vom Bild-und-Gleichnis-Gottes-Sein
des Menschen bis zum Offenbarwerden des Kind-Gottes-Seins
des Menschen (revelatio filiorum Dei).[11]
Wer
nun ist Maria, wofür steht sie in Gottes Plan in der Erlösung des Menschen? Redemptor hominis beantwortet diese
Frage so: Niemand kann so wie Maria uns in das Göttliche und Menschliche des
Erlösungsgeheimnisses einführen. Niemand wurde von Gott selbst darin so
eingeführt wie Maria. Und gerade darin besteht das Besondere der Gnade
göttlicher Mutterschaft (vgl. 22).
Sehr deutlich wird der Gedanke der Unüberbietbarkeit des erlösten Menschseins
in Maria durch den anschließenden Text: Non
solum est unica minimeque iterabilis huius maternitatis dignitas in humani
generis historia, sed unica etiam - quod attinet ad eius profunditatem et ad
amplitudinem eius actionis participatio est, qua Maria, propter eandem
maternitatem, consilio divino de salute humana communicavit per mysterium
Redemptionis. Hoc ipsum mysterium - si ita loqui possumus - sub corde Virginis
Nazarethanae est effectum, cum haedillud „fiat“ pronuntiavit. Ex
quo tempore virginem eius simulque maternum Cor, peculiari Spiritus Sancti
operante virtute, semper Filii sui opus persequitur et omnibus se obviam dat,
quos Christus inexhausta caritate sua complexus est et continenter
complectitur. Hac de causa etiam Cor Mariae
item inexhausto affectu materno debet praeditum esse.[12] Immer wieder also ist es die Unüberbietbarkeit des
wahren Menschseins in Maria, an der die Erlösung offenbar wird: einmalige und
unwiederholbare Würde der Mutterschaft; einzigartige Teilhabe am Heil des
Menschen, die ihren Ausdruck in der Tiefe und in der Weite des Tuns findet;
immer begleitet das Unüberbietbare Mariens (Cor) das Tun des Erlösers und macht
es allen Menschen kund; unerschöpflich, unüberbietbar muß die mütterliche
Zuneigung des Herzens Mariens sein.
Immer
wieder kann man unterscheiden: Es gibt das Unendliche
der Maßlosigkeit und Übertreibung, wofür es eigentlich keine Wirklichkeit
gibt; eine Mariologie der frommen oder spekulativen Maßlosigkeit ist eine
unwirkliche Mariologie. Es gibt aber auch das Unendliche des Unüberbietbaren, wofür es die Wirklichkeit des
Menschseins gibt; eine Mariologie des unüberbietbaren Menschseins offenbart die
Wirklichkeit und Wahrheit der Erlösung.
Solange
man inhaltlich-objektiv verfährt,
kann man alles erdenken und ausdenken, ohne sich um die Wirklichkeit kümmern zu
müssen. Das einzige, das in seinem Vollzug auch gleichzeitig seine Wirklichkeit fordert, ist das
Menschsein. Das Menschsein ist der Ausdruck und der Inbegriff von Realität. Das
in der Erlösung zu seiner Wahrheit gekommene Menschsein kann kein bloßer
theologischer oder spekulativer Gedanke sein, das wahre Menschsein erträgt und
verträgt nur Wirklichkeit.
Menschsein und Wirklichkeit stehen in einem unlösbaren Zusammenhang. Dies heißt
nicht, daß die Kontingenz des Geschöpflichen den Menschen nicht träfe. Es liegt
jedoch in der Unüberbietbarkeit des einmal geschaffenen Menschseins, daß die
Erfahrung der Wirklichkeit unlösbar mit dem Menschsein verbunden ist. Wenn nun
das erlöste Menschsein das wahre Menschsein ist, dann ist es theologisch
zumindest nicht ungebührend, nach dem Gelingen,
nach der Wirklichkeit des erlösten Menschseins Ausschau zu halten. Mißt man
diese Überlegungen an der Mariologie und an den mariologischen Implikationen
von Redemptor hominis, dann könnte
man vielleicht festlegen, daß Maria die
Wirklichkeit, das Gelingen des erlösten
Menschseins ist und damit die Wahrheit des erlösten Menschseins für alle
Menschen in der gebührenden Wirklichkeit hält. Maria ist also weder die
Verallgemeinerung des von uns vorgestellten idealen Menschen, Maria ist weder
die Projektion unserer edelsten Wünsche und Phantasien, Maria ist die Wirklichkeit des wahren Menschseins, dessen
Unüberbietbarkeit der Erlöser in seiner Erlösung kundtut. Aus solcher
Perspektive läßt sich erahnen, welche anthropologische und theologische
Einsicht jene glaubenden Menschen und die Kirche trug, die in allem Heils- und
Gnadengeschehen eine Vermittlung Mariens zu erfassen imstande waren.
In
dieser Perspektive wird die Liebe Gottes, die das wahre Menschsein erlösend
freilegt, durch Maria zeichenhaft, verstehbar und für jeden Menschen
vollziehbar. Für die Kirche, in deren Tun immer der Mensch auch der
vorgezeichnete Weg der Heilsvermittlung ist, ist Maria die Mutter der Kirche,
die „Erfahrung“ der Kirche. Und mit der Gegenwart Mariens in der
Kirche steht die Kirche in der Gewißheit, in der Erlösung Christi, in der
Wahrheit des erlösten Menschseins, mit jedem Menschen zutiefst verbunden zu
sein. So sagt es Redemptor hominis: Aeternuns
Patris amor, qui in historia humani generis per Filium est manifestatus,
… nobis offertur per hanc Matrem atque hoc modo signa accipit ad
intellegendum accomodatiora et faciliora cuique homini. Ita fit, ut Maria in
omnibus viis cotidianae vitae Ecclesiae versetur oporteat. Eo quod ut Mater
praesens adest, Ecclesia certum habet se reapse vitam vivere Magistri sui et
Domini, se e mysterio vivere Redemptionis cum tota eius vivificatoria
plenitudine. Eidem pariter Ecclesiae, quae in pluribus variisque campis vitae
universorum, qui nunc sunt, hominum veluti radicatur, etiam compertum est
eademque, ut ita dicamus, experitur se cum homine, cum uno quoque homine, esse
coniunctam se huius esse Ecclesiam, scilicet Ecclesiam Populi Dei.[13]
Gott
befreit den Menschen zur erlösten Unüberbietbarkeit. Nicht eine Theorie oder
ein Programm sind die Wirklichkeit dieser Erlösung. Die wahre Wirklichkeit ist
Maria.
Texte
von Altbischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net
mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: Jutta
Kern und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde
erstellt am 12.10.2005.
[1] Im Jahre 1979 hielt der damalige Regensburger
Professor für „Systematische Theologie“, Prof. Dr. Kurt Krenn, an
der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg eine
Sondervorlesung über die neue Enzyklika Papst Johannes Pauls II.
„Redemptor hominis“ vom 4. März 1979. Bei dieser Gelegenheit wurde
der Krakauer Professorenkollege Tadeusz Styczen auf ihn aufmerksam. Dieser war
einer der engsten Mitarbeiter des neuen Papstes und berichtete dem Heiligen
Vater von dieser Veranstaltung. Daraufhin ergab es sich, dass Prof. Dr. Kurt
Krenn anlässlich einer Audienz beim Heiligen Vater mit einer Pilgergruppe aus
Oberkappel vom päpstlichen Sekretär eingeladen wurde, am 6. September 1979 um 8
Uhr mit dem Hl. Vater in seiner Privatkapelle die hl. Messe zu feiern und
anschließend mit ihm zu frühstücken.
Dieser hier dokumentierte Beitrag mit dem ursprünglichen Titel „Maria
und das wahre Menschsein. Präambeln zu einer Mariologie aus den Grundaussagen
der Enzyklika ‚Redemptor hominis’“ wurde in der Zeit, als
Kurt Krenn Weihbischof von Wien war, publiziert in: Anna Coreth/Ildefons Fux
(Hrsg.), Servitium Pietatis. Festschrift für Hans Hermann Kardinal Groer zum
70. Geburtstag, Maria Roggendorf 1989 (Salterrae), 68-88. In der hier
vorliegenden Textwiedergabe wurden auf Belegstellen verweisende
Klammerausdrücke soweit als möglich in Fußnoten ausgelagert.
[2] Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6,42.
[3] Diese (hier durch kleinere Schrift bezeichnete)
Absatz findet sich in der gedruckten Fassung nicht, wird hier aber aus Gründen
der inneren Logik des Aufsatzes dokumentiert.
[4] Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica 1 q 2 a 3 c.
[5] Vgl. RH 13: existentia
unica neque iterabilis.
[6] 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 24.
[7] „Der
Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will - nicht nur nach
unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur
scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins -, muß sich mit seiner
Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem
Leben und Tode Christus nahen. Er muß sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn
eintreten, muß sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung
„aneignen“ und assimilieren, um sich selbst zu finden. Wenn sich in
ihm dieser tiefgreifende Prozeß vollzieht, wird er nicht nur zur Anbetung
veranlaßt, sondern gerät auch in tiefes Staunen über sich selbst. Welchen Wert
muß der Mensch in den Augen des Schöpfers haben, wenn „er verdient hat,
einen solchen und so großen Erlöser zu haben“ (Aus dem Exultet der
Osternacht), wenn „Gott seinen Eingeborenen Sohn hingegeben hat“,
damit er, der Mensch „nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben
hat“ (vgl. Joh 3,16). Dieses tiefe Staunen über den Wert und die Würde
des Menschen nennt sich Evangelium, Frohe Botschaft und wird gleichzeitig
Christianismus genannt. (Nach der Übersetzung der Verlautbarungen des
Apostolischen Stuhls, Nr. 16, hg. vom Sekretariat der Deutschen
Bischofskonferenz, S. 18-19).
[8] Vgl. RH 8,9,10.
[9] Vgl. RH 8-10.
[10] „Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt
für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm
nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie
nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr
erhält. Und eben darum macht Christus, der Erlöser, wie schon gesagt, dem
Menschen den Menschen selbst voll kund. Dieses ist - wenn man sich so
ausdrücken darf - die menschliche Dimension im Geheimnis der Erlösung. In
dieser Dimension findet der Mensch wiederum die Größe, die Würde und den Wert,
die seinem Menschsein eigen sind. Im Geheimnis der Erlösung wird der Mensch
„neu bestätigt“ und in gewisser Weise neu geschaffen. Er ist neu
erschaffen! (RH 10, vgl. Verlautbarungen a.a.O., S. 18)
[11] Vgl. RH 8-10
[12] Nicht nur die Würde
dieser Mutterschaft ist in der Geschichte des Menschengeschlechtes einzigartig
und unwiederholbar; einzigartig an Tiefe und Wirkung ist auch die Teilhabe
Mariens aufgrund dieser Mutterschaft im göttlichen Heilsplan für den Menschen
durch das Geheimnis der Erlösung. Dieses Geheimnis hat sich sozusagen unter dem
Herzen der Jungfrau von Nazareth gebildet, als sie ihr „Fiat“
gesprochen hat. Von jenem Augenblick an folgt dieses jungfräuliche und zugleich
mütterliche Herz unter dem besonderen Wirken des Hl. Geistes immer dem Werk des
Sohnes und nähert sich allen, die Christus in seine Arme geschlossen hat und
noch ständig in seiner unerschöpflichen Liebe umarmt. Deswegen muß dieses Herz
auch als Herz einer Mutter unerschöpflich sein (RH 22, Verlautbarungen a.
a. O., S. 61).
[13] Die ewige
Liebe des Vaters, die sich in der Geschichte der Menschheit durch den Sohn
geoffenbart hat, ... nähert sich einem jeden von uns durch diese Mutter und
wird so für jeden Menschen verständlicher und leichter zugänglich, durch die
empfangenen Zeichen. Darum muß Maria auf allen Wegen des täglichen Lebens der
Kirche gegenwärtig sein. Durch die Anwesenheit ihrer Mutter gewinnt die Kirche
Gewißheit, daß sie wirklich das Leben ihres Meisters und Herrn lebt, daß sie
das Geheimnis der Erlösung in all ihrer belebenden Tiefe und Fülle vollzieht.
Die Kirche, die ihre Wurzeln in zahlreichen und verschiedenartigen
Lebensbereichen der ganzen heutigen Menschheit hat, gewinnt dabei auch die
Gewißheit und, so könnte man sagen, die Erfahrung, daß sie dem Menschen nahe
ist, jedem einzelnen, daß es seine Kirche ist: die Kirche des Volkes Gottes
(RH 22, Verlautbarungen, a. a. O. S. 61).