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Diözesanbischof Dr. Kurt Krenn von St. Pölten

 

25 Jahre seit Humanae vitae
Pastoralschreiben an die Priester und Gläubigen der Diözese
vom 25. Juli 1993

 

1. Vor 25 Jahren, am 25. Juli 1968, erließ Papst Paul VI. die Enzyklika "Humanae vitae" und mit ihr die verbindliche Lehre der Kirche über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens. Auch wenn Humanae vitae vom Papst nicht in einem endgültigen Akt von Unfehlbarkeit verkündet wurde, handelt es sich bei dieser Enzyklika dennoch um eine Aussage seines authentischen und obersten Lehramtes, die von allen Gliedern der Kirche mit dem religiösen Gehorsam des Willens und des Verstandes anzunehmen ist (vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konstitution über die Kirche, Nr. 25). Dafür haben die Bischöfe auf der Synode von 1980 ihr Zeugnis abgelegt und festgehalten, daß in der Einheit des Glaubens mit dem Nachfolger des Petrus entschlossen daran festzuhalten ist, daß die eheliche Liebe im vollen Sinn menschlich, ausschließlich und offen für das Leben sein muß (Propositio, Nr. 22); die Bischöfe beziehen sich dabei sowohl auf das II. Vatikanische Konzil (Gaudium et Spes, Nr.50) als auch auf die Enzyklika Humanae vitae (Nr. 11 u. Nr. 9 u. 12).

2. In Humanae vitae geht es um die Treue zum Schöpferplan Gottes, für dessen Verwirklichung die Kirche das natürliche Sittengesetz auslegt; jeder eheliche Akt muß von sich aus auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet sein (vgl. 11). Liebende Vereinigung von Mann und Frau und Fortpflanzung sind jene Sinngehalte des ehelichen Aktes, deren unlösbare Verknüpfung der Mensch nicht eigenmächtig auflösen darf (vgl. 12). Jede Handlung, die entweder in Voraussicht oder während des Vollzugs des ehelichen Aktes oder im Anschluß an ihn beim Ablauf seiner natürlichen Auswirkungen darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern, sei es als Ziel, sei es als Mittel zum Ziel, ist verwerflich (vgl. 14). Die absichtliche Unfruchtbarmachung des ehelichen Aktes ist eine eigenmächtige Auflösung der Verknüpfung von Liebe und Nachkommenschaft. Solche Wege von Geburtenregelung widersprechen dem göttlichen Schöpfungsplan und sind sittlich nicht erlaubt. Erlaubt hingegen ist die Beschränkung des ehelichen Verkehrs auf empfängnisfreie Zeiten, von denen die Ehegatten als naturgegebenen Möglichkeiten rechtmäßig Gebrauch machen dürfen. Nicht jeder eheliche Akt muß in der Tat zu Nachkommenschaft führen; der eheliche Akt muß jedoch für das Kind offen sein, indem nichts vonseiten des Menschen durch künstliche Verhütung gegen die Verknüpfung von Liebe und Nachkommenschaft unternommen wird.

Nicht in der notwendigen Weite kann dieser Pastoralbrief vortragen, was das mühsame und am Kreuz Christi orientierte Leben der Ehegatten, der Familien und der Seelsoger ermutigen sollte. Gottes Wege sind keine leichten Wege, wenn diese der Mensch in seinen sittlichen Entscheidungen beschreiten will; denn Gott hat uns dazu bestimmt, heilig und ohne Makel vor seinem Angesicht zu sein. Lebenswirklichkeit und Glaubenswahrheit sind keine Widersprüche oder Gegensätze, das eine und das andere kann wahrhaft nur der Ausdruck der Heiligkeit Gottes sein.

3. Papst Paul VI. war sich der Tragweite seiner lehramtlichen Entscheidung bewußt. Schon wenige Tage nach Veröffentlichung der Enzyklika, am 31. Juli 1968, sagte Paul VI. u.a.: "... Noch nie haben Wir die Last Unseres Amtes so empfunden wie in diesem Fall. Wir haben studiert, gelesen und diskutiert, so viel Wir konnten, und auch viel gebetet ... Wie oft hatten Wir den Eindruck, von dieser Masse von Dokumenten beinahe erdrückt zu werden, und wie oft haben Wir, menschlich gesprochen, die Unfähigkeit Unserer armen Person vor der gewaltigen apostolischen Pflicht festgestellt, über dieses Problem eine Entscheidung auszusprechen. Wie oft haben Wir vor der zweifachen Möglichkeit gezittert, ein Urteil zu geben, das leichthin der herrschenden Meinung entsprechen, oder eines, das von der heutigen Gesellschaft unwillig angenommen und aus reiner Willkür für das Eheleben zu schwer sein würde ... Und es ist Uns kein Zweifel über Unsere Pflicht geblieben, Unseren Entscheid in der Fassung der vorliegenden Enzyklika auszudrücken ..." (L'Osservatore Romano, Nr. 175 vom 1.8.1968).

Wie kaum ein anderes Dokument des Lehramtes hat Humanae Vitae tief in das Leben des Menschen und der Kirche eingegriffen. Wer diese Worte des Papstes zu würdigen versteht, weiß, daß es um eine Lehrentscheidung ging, die für immer sittliches Ordnungsprinzip in der ständig erfahrbaren Tiefe von Menschennöten und Liebe ist. Rein theoretisch ist der Zeitpunkt abzusehen, zu dem der Wissensstand über die naturgegebenen unfruchtbaren Zeiten der Frau so sicher und vollständig sein wird, daß viele Probleme von heute sich für die Ehegatten von morgen nicht mehr stellen werden. Dennoch wird die in Humanae vitae gedeutete Schöpfungsordnung des ehelichen Aktes eine ständige Herausforderung, nicht selten ein Ärgernis und immer ein Aufruf zur Heiligkeit des Menschen sein.

4. Zur Zeit starrt die Kontestation gegen Humanae Vitae nur auf die Frage, wie sexuelle Liebe ohne Offenheit für Nachkommenschaft zu einer sittlich erlaubten Entscheidung umfunktioniert werden kann. Eheliche Sexualität ohne Offenheit für das Kind als reine Ausbeutung der Lust wird nie vollmenschlich und ganzheitlich sein, weil der Schöpfer in der Gabe der Liebe die personale Liebe der Gatten und neues menschliches Leben verbunden hat. Nie darf in der Liebe von Mann und Frau die Ordnung der Natur verletzt werden, aber auch niemals darf in der schöpfungsgemäßen ehelichen Begegnung die personale Liebe fehlen.

In der ersten Kontestation hagelte es vor allem die Vorwürfe, Humanae vitae sei einseitig biologistisch orientiert und huldige einem zweifelhaften Begriff von Natur, der das Gedeihen der personalen Liebe im ehelichen Akt unterdrücke. Wenn heute jedoch z.B. in der Frage der künstlichen Befruchtung das personale Mitwirken der Ehegatten eingefordert werden muß, ist es gerade das Lehramt der Kirche, das die personale Liebesgemeinschaft von Mann und Frau in der Zeugung eines Kindes verteidigt und das Entstehen neuen Lebens nicht einfach der "Liebeslosigkeit" medizinischer und technischer Künste preisgibt. Verteidigt die Kirche das eine Mal die natürliche Schöpfungsordnung, verteidigt sie ein andermal die personale Dimension in der Zeugung. Ob künstliche Empfängnisverhütung, ob künstliche Befruchtung: jedesmal stößt die Kirche auf die Gegenerschaft jener, die einen der beiden unverzichtbaren Sinngehalte des ehelichen Aktes verneinen und moralische Beliebigkeit als Fortschritt deklarieren.

5. Tag für Tag wird heute die Kirche an ihre angeblich unrühmliche Geschichte erinnert. Es wird kaum etwas aus der Vergangenheit geben, was nicht auch als die große Schuld der Kirche dargestellt wird: Kreuzzüge, Inquisition, Hexenprozesse, Folter, Fall Galilei, Kolonialisierung Amerikas, Verfolgung und Unterdrückung von Minderheiten und vieles andere werden mit Vorliebe der Schuld der katholischen Kirche zugeteilt. Das Motiv solcher eifriger Vergangenheitsbewältigung ist jedoch nicht selten ein sehr durchsichtiges. Man will aus solcher Negativapologetik gegen die Kirche eigentlich nur eines schlußfolgern: Die Kirche hat in der Vergangenheit geirrt, also irrt sie auch heute, also irrt sie auch mit Humanae vitae. Man sucht die angeblichen Irrtümer der Kirche, um Humanae vitae nicht gelten lassen zu müssen; Humanae vitae ist zur geheimen Perspektive der schiefen Geschichtsdeutung geworden. Es war jedenfalls noch nie der Weg des Geistes, "objektive" Tatsachen aus subjektivem Interesse zu konstruieren. So gibt es heute die sonderbare Aktionsgemeinschaft von jenen, die systematisch die Erinnerung an die Vergangenheit der Kirche vergiften, und von jenen, die aus subjektiver Betroffenheit die Unfehlbarkeit der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche zerstören wollen.

6. Humanae vitae ist keineswegs etwas Neues in der Lehre der Kirche; von Papst Paul VI. wurde die Morallehre der Kirche fortgeführt und bekräftigt: angesichts vieler neuer Möglichkeiten der künstlichen Empfängnisverhütung wurden vom Wesen des ehelichen Aktes her die Bedingungen seiner Sittlichkeit in Anwendung beschrieben.

Gleichzeitig mit dem Protest und mit dem Dissens zu Humanae vitae wurden neue "Ideale" von Liebe und Sexualität propagiert: Ausschließliche Eigenverantwortung der Betroffenen, Beseitigung von Tabus und Ängsten, keine Einordnung der sexuellen Akte in den Lebensraum der Ehe, Primat von Glück und Lust ohne Verbindung mit Nachkommenschaft und ohne Einordnung in die eheliche Gemeinschaft von Mann und Frau, sexuelle Freizügigkeit als neue Freiheit, Sexualität auf Probe, Sexualität in Gleichberechtigung usw. Der inner- und außerkirchliche Aufstand gegen Humanae vitae schien seit 1968 automatisch der humane und zielführende Weg zu neuem Glück und zu wahrer Befreiung von den Geboten Gottes und von einer düsteren, mittelalterlichen Kirche zu sein.

Nach einer Generation im Widerstand gegen Humanae vitae dürfte es also nur noch stabile und glückliche Ehen geben, nur mehr harmonische Persönlichkeiten, nur mehr geliebte und sich prächtig entfaltende Wunschkinder, nur mehr eine Sexualität ohne die Einmischung Gottes. Was sind die Früchte des Widerstandes und der Verneinung von Humanae vitae? Am Zustand der Ehen und Familien, der Kinder und der Jugend, am Standard der Würde und Rechte des Menschen lassen sich heute keine guten Früchte des Ungehorsams gegen Humanae vitae vorzeigen, wenn der Dissens zu Humanae vitae ein Versuch der Befreiung von der "Gewissenssklaverei" durch das kirchliche Lehramt sein wollte. Wie pessimistisch wird heute die Welt des Menschen in Ehe, Familie, Erziehung und allgemeiner Humanität von denen beschrieben, die den Ungehorsam wählten, um frei und fortschrittlich zu sein. War der Ungehorsam vielleicht nichts anderes als die Vorbereitung jenes breiten Weges, der in den Abgrund führt? Die Not des Menschen ist heute viel zu groß; niemand hat das Recht, sich am Einsturz eines Hauses zu freuen, das nur auf Sand gebaut war. Notwendig jedoch sind heute die Bekehrung zur Ordnung Gottes und ein radikaler Sichtwechsel des Menschen in seinen täglichen Entscheidungen.

Hoffte man einst, durch eigenmächtige Empfängnisverhütung die Abtreibungsfälle zu vermindern, zeigt sich heute längst schon die trügerische Illusion solcher Hoffnung. Die Sexualität, die nach der Ordnung des Schöpfers eine Gabe an die unwiderruflich verbundenen Ehegatten ist, wurde den Kindern und Jugendlichen als soziale und kulturelle Gefälligkeit angeboten, die längst ihren eigenen Weg der Verwüstung der Seelen geht und durch kontrazeptive Gratisgaben nicht zu steuern ist. Aus der Verachtung des Schöpfers ist eingetreten, was der Römerbrief als die Vertauschung der Wahrheit Gottes mit der Lüge beschreibt: Ihre Frauen haben den natürlichen Geschlechtsverkehr mit dem widernatürlichen vertauscht; auch die Männer haben den natürlichen Verkehr mit der Frau aufgegeben und sind in ihrer wilden Gier zueinander entbrannt ... Sie kennen zwar die göttliche Rechtsordnung genau, tun es aber trotzdem nicht nur selbst, sondern spenden auch noch denen Beifall, die solche Dinge verüben (vgl. Röm 1,24-32). Die Sexualität hat zutiefst etwas mit der Anerkennung Gottes durch den Menschen zu tun: "Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte sie Gott einem verworfenen Denken aus, so daß sie nicht tun, was sich gehört" (Röm 1,28). Wo heute an der Stelle Gottes das Prinzip der blinden Lust thront, vergißt der Mensch, daß er Gottes Abbild ist. Wohl beginnt heute eine gewisse Besinnung auf die "Schöpfung", was jedoch noch lange nicht der Durchblick auf den "Schöpfer der Schöpfung" ist. Denn in Gottvergessenheit kann der Mensch sich gleichgültig als homo-, bi- oder heterosexuell deklarieren und dabei so tun, als hätte diese Frage nicht mehr Bedeutung als die Marke des benutzten Autos.

7. Es gibt heute in der Kirche den innerlich gespaltenen Menschen, der einerseits überaus aktiv und engagiert mitarbeitet, in seiner persönlichen Lebensführung jedoch im Ringen um die "castitas/Keuschheit" resigniert hat. So werden oft endlose Diskussionen und Debatten auf Ebenen geführt, die gar nicht das wahre Problem zeigen, sondern eher lautstark verdecken, daß es bei den Streitenden in Wirklichkeit an der Keuschheit des Leibes, der Wünsche und Gedanken fehlt. Es gibt in der Kirche und in der öffentlichen Meinung ein gewisses Protestpotential, für dessen Vorurteile und Aktivitäten der Mangel an keuscher Lebensführung die wahre Quelle der unverstehbaren Gespaltenheit ist. Manchmal verschließen sich solche - durchaus ideal gesinnte - Menschen viele Jahre hindurch der sakramentalen Beichte gänzlich oder klammern in der Beichte diesen Bereich eigenmächtig aus, um dafür umso mehr über ihre sozialen Beziehungen zu den Mitmenschen zu reflektieren: Eine rein sozial angelegte Beichte ersetzt nicht das Bekenntnis persönlicher Sünden z.B. gegen die Keuschheit.

Die Mühsamkeit einer würdigen Beichte hat sicher auch noch andere Gründe. Dennoch ist gerade das Bewußtsein von Sünde und Schuld, das aus der Verletzung der Keuschheit stammt, ein ständiger Herd innerer Unruhe und äußerer Verschleierung. An der Frage seiner Lebensordnung in Keuschheit kommt kein Mensch vorbei; sie stellt sich nicht als kirchenpolitische, sondern als ganz persönliche Gottesfrage, der keiner ausweichen kann. Keuschheit ist eine Weise der Heiligkeit des Menschen, die von allen zu leben ist: von den Verheirateten und von den Ehelosen, von jungen Menschen und von Erwachsenen, von den Versuchten und von den Gereiften. Keuschheit ist eine gelungene Entscheidung für Gott. Ist der Mensch von Sünde und Schuld beladen, weiß er aber auch, daß in seinem Ringen Gott selbst um ihn ringt; Gottes Barmherzigkeit wird immer größer als die Schuld jenes Menschen sein, der wie der verlorene Sohn zum barmherzigen Vater umkehrt und heimkehrt.

Es wird die große Aufgabe der Priester und Beichtväter sein, an die Heiligkeit Gottes mit Gewissenhaftigkeit, Mitgefühl und diskreter Würdigkeit zu erinnern: Keuschheit ist Liebe; Keuschheit ist in der Ordnung Gottes gestaltete Liebe; Keuschheit gehört zum Weg der irdischen Heiligung des Menschen. Wenn Leib und Seele, Liebe und Glück zum irdischen Menschen gehören, muß dem Menschen darin die Entscheidung für Gott gelingen.

8. Heiligung in Keuschheit braucht die Urteile und Entscheidungen des Gewissens; das Gute ist zu tun, das Böse ist zu meiden; manchmal ist die Versuchung zur Sünde groß, manchmal ist ein rechtes Gewissensurteil kompliziert und schwierig. Das Urteilen und Entscheiden des Gewissens bewegt sich zwischen vielem: Tun und Nicht-Tun, tugendhaftes Meiden und schuldhaftes Unterlassen, Vorrang und Nachrang, Mittel und Ziel, frei und gezwungen, klar und verwirrt, selbstbestimmt oder entfremdet u.a. sind Beispiele realer Positionen des menschlichen Gewissens.

Wenngleich Humanae vitae zum Anlaß für Dissens und Kontestation in der Kirche wurde, war diese Enzyklika eine notwendige Entscheidung für die Anerkennung des Schöpfers, für die Würde des Menschen und für die Wahrheit der Glaubenslehre. Wer Humanae vitae vertritt, wird ohne weiteres Störer oder Spalter der kirchlichen Einheit nunmehr von jenen genannt werden, die sich zu einem Dissens-Kartell zusammengeschlossen haben und den Begriff der "communio" für sich beanspruchen. Der innerkirchliche Disput um Lehr- und Ordnungsfragen vollzieht sich heute kaum nach den Regeln der üblichen systematischen Logik; dennoch ist es auffällig, daß eine Option gegen Humanae vitae häufig auch eine Option gegen andere "katholische" Positionen wie z.B. Unauflöslichkeit der Ehe, Zölibat, Lehramt und Primat des Papstes, sakramentales Weiheamt, Ehrfurcht und Gehorsam, Sexualmoral der Kirche, übernatürliche Wirklichkeit der Kirche und der Offenbarung, Wahrheitsanspruch des katholischen Glaubens und Heilsnotwendigkeit der Kirche u.a. bedeutet. Der opponierende Dissens in der Kirche hat zwar nicht die logische Kraft einer Systematik, jedoch die Bündnisfähigkeit in allerlei Optionen der nichtkirchlichen Art.

9. Was durch die Gegnerschaft zu Humanae vitae am meisten zu Schaden gekommen ist, ist die theologische Lehre vom Gewissen. Es ist in der Kirche klar und unbestritten, daß letztlich das persönliche Gewissen des Menschen es ist, nach dem der Mensch von Gott beurteilt und gerichtet, gerettet und verworfen wird. Mit seinem Gewissen steht der Mensch völlig allein vor Gott; vor Gott kann das Gewissen durch nichts und durch niemand vertreten werden. Es kann auch geschehen, "daß das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zuwenig darum müht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird" (Gaudium et Spes, Nr. 16).

Wenn jemand die Wahrheit des Glaubens und der Lehre ablehnt, kann es nur unüberwindliche Unkenntnis der katholischen Wahrheit sein, was sein Gewissen vor Gott rechtfertigt. Das irrende Gewissen wird es oft geben, das den Menschen wohl subjektiv rechtfertigt, aber objektiv nicht Wahrheit beanspruchen kann. Oft ist das Gewissen auch in seinem Irrtum das, wonach es von Gott gerichtet wird. Ein Gewissen jedoch, das im Gegensatz zur Lehre der Kirche steht und daher - wie auch immer - irrendes Gewissen ist, kann von der Kirche nie als eine Art rechtes Gewissen anerkannt werden, das im Widerspruch zur Lehre handeln oder sich seine Ausnahmen gestatten könnte. Der Versuch, ein irrendes und im Widerspruch zur Lehre der Kirche stehendes Gewissen als rechtes Gewissen dennoch zuzulassen und ihm eine gewisse allgemeine und objektive Gültigkeit zuzugestehen, war die bedauerliche Inkonsequenz der sogenannten "Maria-Troster-Erklärung" der österreichischen Bischöfe vom 22. September 1968.

1o. Mit viel Wertschätzung sprachen die Bischöfe Österreichs in ihrer Erklärung von dem in Humanae vitae dargestellten "hohen Leitbild" der Ehe; es sind die Ehegatten selbst, die in ihrem "von Gott gebildeten Gewissen" die Zahl ihrer Kinder bestimmen können, was eine Ausrichtung des Gewissens am göttlichen Gesetz und am Lehramt der Kirche verlangt; die Bischöfe betonen schließlich: es gibt Gewissenfreiheit - aber nicht Freiheit der Gewissensbildung. Bis zu diesem Punkt bedeutet die "Maria-Troster-Erklärung" volle Unterstützung für Humanae vitae. Leider wurden diese Aussagen der Bischöfe inzwischen fast völlig vergessen, weil ein inkonsequenter und widersprüchlicher Satz in der Maria-Troster-Erklärung eine ungerechtfertigte Ausnahme zur Regel werden ließ und seither die Maria-Troster-Erklärung als Dokument des Dissenses zu Humanae vitae gelten läßt.

Diese verunglückte Legitimierung des irrenden Gewissens als quasi allgemeiner und objektiver Norm lautet so: "Da in der Enzyklika kein unfehlbares Glaubensurteil vorliegt, ist der Fall denkbar, daß jemand meint, das lehramtliche Urteil der Kirche nicht annehmen zu können. Auf diese Frage ist zu antworten: Wer auf diesem Gebiet fachkundig ist und durch ernste Prüfung, aber nicht durch affektive Übereilung zu dieser abweichenden Überzeugung gekommen ist, darf ihr zunächst folgen. Er verfehlt sich nicht, wenn er bereit ist, seine Untersuchung fortzusetzen, und der Kirche im übrigen Ehrfurcht und Treue entgegenzubringen. Klar bleibt jedoch, daß er in solchem Fall nicht berechtigt ist, mit dieser seiner Meinung unter seinen Glaubensbrüdern Verwirrung zu stiften" (Nr. II).

Nach 25 Jahren ist die Folgegeschichte dieser Erklärung offensichtlich; das, womit die Bischöfe Emotionen und Verwirrung eingrenzen und eine Orientierung an der Kirche sichern wollten, ist von anderen Kräften überrannt und allgemein vergessen worden. Geblieben ist der widersprüchliche Ausnahmefall, der heute als der Regelfall des vom Lehramt abweichenden Gewissens angesehen wird. Es zeigt sich, daß das Abgehen des Gewissens von der Wahrheit der kirchlichen Lehre durch keinerlei formale Appelle gutzumachen ist. Bis zum heutigen Tag hat sich das Lehramt der Kirche, besonders im Apostolischen Schreiben "Familiaris consortio" , immer wieder zu Wort gemeldet und Humanae vitae bekräftigt. Rein aus der tatsächlichen Lage der Dinge nach 25 Jahren kann sich niemand mehr auf weiteres Nachdenken, Prüfen und Untersuchen zurückziehen oder aus irgendeinem Grund einer abweichenden Überzeugung "zunächst" folgen.

11. Der Dissens zu Humanae vitae ist also keine legitime Alternative für das Gewissen; das Gewissen kommt nicht zur Ruhe, wenn man ihm sagt, daß Humanae vitae kein unfehlbares Glaubensurteil sei. Das Gewissen wird fragen, was denn der wahre Wille des Schöpfers und das richtige Gewissensurteil sei. Gegen den Willen des Schöpfers kann es nicht die erlaubte Freiheit des Menschen geben.

Das Gewissen wird die Wahrheit und nichts als die Wahrheit suchen; es kann nicht damit beruhigt werden, daß noch kein endgültiges Glaubensurteil vorliegt oder der Grundsatz gelte: "in dubiis libertas"; das Gewissen, das in die Gottesfrage eintritt, wird solche Argumentationen als ungenügend durchschauen.

Viel irreführender Mißbrauch wird mit der Formel getrieben, man müsse alles nach eigenem Gewissen entscheiden, und man fügt die völlig unberechtigte Konklusion hinzu, daß das Gewissen ex definitione keine Fremdbestimmung erträgt und nur sich selbst bestimmen kann, um Gewissen zu sein. Die völlige Autonomisierung des Gewissens kann sich nicht auf das II. Vatikanische Konzil berufen, denn in Gaudium et Spes heißt es: "Im Inneren seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß ... Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Wesen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird" (Nr. 16). Freiheit und Selbstbestimmung sind noch nicht die Gewähr dafür, daß der Mensch gemäß seinem Gewissen sittlich handelt; der Mensch wird nach der Übereinstimmung seines Gewissenes mit jenem Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, und dem er gehorchen muß, fragen müssen. Die Frage nach dieser Übereinstimmung ist die Frage nach der Wahrheit des Gewissens, der sich der Mensch nicht entziehen kann, wenn er gemäß seinem Gewissen sittlich gut handeln will. Solange der Mensch nicht nach der Wahrheit des Gewissens fragt, bleibt er ein gefährlicher Zeitgenosse, der die schlimmsten Taten damit rechtfertigen könnte, daß er eben dem völlig von sich selbst bestimmten Gewissen folgt.

Es gibt das objektiv Gute, das zu tun geboten ist; es gibt das objektiv Böse, das zu tun niemals erlaubt ist. Nur wenn das Gewissen nach der Wahrheit fragt und sich dementsprechend verhält, wird der Mensch nicht zum eigenmächtigen Handelnden und zum Abhängigen von der Beliebigkeit der Situation. Vom Gewissen, das gegenüber der Gesellschaft "Zeuge für die Transzendenz des Menschen" ist, sagt Johannes Paul II. in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1.1.1991: "Es (das Gewissen) ist jedoch nicht ein über die Wahrheit und den Irrtum gestelltes Absolutes; ja, seine innnerste Natur schließt die Beziehung zur objektiven, allgemeinen und für alle gleichen Wahrheit ein, die alle suchen können und sollen. In dieser Beziehung zur objektiven Wahrheit findet die Gewissensfreiheit ihre Rechtfertigung als notwendige Vorbedingung für die Suche nach der dem Menschen gemäßen Wahrheit, zu der alle verpflichtet sind, und für die Zustimmung zu ihr, sobald sie entsprechend erkannt wurde" (Seite 5).

Kurz gesagt: Das Gewissen ist nur es selbst, wenn es auf die Wahrheit bezogen wird, um diese zu vernehmen. Niemand hat das Recht, das Gewissen an der Wahrheit vorbeizuführen, um es durch Irrtum oder Beliebigkeit vor sich selbst zu rechtfertigen. Eine Toleranz, die alles, nur nicht die Wahrheit erträgt, kann nicht zu einer humanen oder religiösen Gewissenskultur beitragen, denn: "Die Wahrheit setzt sich nur kraft ihrer selbst durch" (Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1991, Seite 5).

12. Am 29. März 1988 haben die Bischöfe Österreichs eine weiterführende Erklärung verabschiedet, in der sie einerseits von der Mißdeutung der "Maria-Troster-Erklärung" und einer daraus folgenden bedenklichen Entwicklung in der Praxis sprechen, andererseits bezüglich der künstlichen Empfängnisverhütung mit dem Papst betonen, "daß die eigenmächtige Auflösung der Verknüpfung von liebender Vereinigung und von Offenheit für neues Leben im ehelichen Akt gegen die Ordnung des Schöpfers und gegen die Würde des Menschen gerichtet ist" (vgl. Nr. 2).

Noch einmal betonen die Bischöfe in ihrem Sozialhirtenbrief vom 15. Mai 1990, daß Gaudium et spes, Humanae vitae und Familiaris consortio verbindlich von der Kirche vorgelegte sittliche Normen für die Gewissensbildung sind (vgl. Nr.106, Anm. 59).

Viel steht für das Heil des Menschen auf dem Spiel; wenn die Kirche dem Menschen unserer Zeit trotz allen Widerspruchs die Lehre von Humanae vitae und Familiaris consortio als verbindliche sittliche Norm verkündigt, dann ist es die Ergriffenheit von einer Wahrheit, die in das Gewissen des Menschen spricht und es zu einem recht gebildeten Gewissen formt. Niemand möge dieser Wahrheit durch Trugschlüsse ausweichen, die behaupten, die "Liebe" stünde so weit vorne, daß der Wille des Schöpfers zur Weitergabe des Lebens gar nicht mehr zu beachten wäre. Gott läßt seiner nicht spotten. Der Protest der Welt gegen Humanae vitae wird weitergehen. Die prophetische Kraft dieser Enzyklika wird jedoch immer wieder in treu gelebten Ehen und gottgesegneten Familien offenbar werden.

Mit großer Erwartung schauen wir nach dem Zeugnis der Bischöfe und der Gläubigen im frei gewordenen Europa aus. Wir sind dankbar bestärkt durch den Hirtenbrief der Bischöfe Böhmens und Mährens, der in diesen Tagen veröffentlicht wird.

Auch die Afrika-Synode 1994 sei ein gewichtiges Wort der jungen Kirche Afrikas für Humanae vitae.

13. Liebe Mitbrüder, liebe Brüder und Schwestern!

Dieses Pastoralschreiben setzt auf Euren Glauben, auf Eure Liebe zu Gott, auf Eure Treue zur Kirche, die die Lehrerin und Hüterin der Wahrheit unseres Glaubens ist.

Lest dieses Schreiben mit Geduld und mit unvoreingenommenem und demütigem Herzen. Humanae vitae und Familiaris consortio sind verbindliche Weisungen der Kirche für das Leben in Ehe und Familie, für die Pastoral, für die Verkündigung und den Unterricht, für die Spendung der Sakramente, vor allem für das Sakrament der Buße.

Die Mitbrüder im Priesteramt bitte ich besonders, die getreuen Verwalter der Gnadengüter Christi zu sein und dem Gewissen der Gläubigen den Weg Gottes zu zeigen.

"Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott kommt, damit wir das erkennen, was uns von Gott geschenkt wurde" (1 Kor 2,12).

In Gemeinschaft mit dem Heiligen Vater wollen auch wir an der Heiligung der Welt und des Menschen, auch unser selbst, mitwirken.

Herzlich grüßt und segnet alle

 + Kurt Krenn

Diözesanbischof  

St. Pölten, 25. Juli 1993


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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 15.09.1998.

 

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