(Referat für Öffentlichkeitsarbeit der Diözese St. Pölten) Mit einer Vesper in der Kapelle des Priesterseminars und anschließender Festakademie in der Aula zur Frage nach Gott und dem Leid, feierte die Hochschule der Diözese St. Pölten am 28. Jänner ihren Patron, den Heiligen Thomas von Aquin. Der seit Oktober an der Hochschule tätige Dozent für ökumenische Theologie und Lehrbeauftragte für Fundamentaltheologie, Dr. Josef Kreiml, stellte die Frage nach Gott und dem Leid in den Mittelpunkt seiner Antrittsvorlesung. Gerade diese Frage, warum Gott das Leid zulasse, werde von vielen Theologen als Schicksalsfrage der Gottesfrage angesehen. Neben dem heiligen Augustinus, der das Leid auf der Welt auf die Erbsünde zurückführt, haben sich immer wieder Theologen mit dieser Frage befasst und Theorien aufgestellt, um eine Antwort zu finden. So auch der Münchner Fundamentaltheologe Armin Kreiner, der vor allem die Willensfreiheit des Menschen hervorhebt. Für ihn sei das Leid der Preis der Freiheit des Menschen, wies Kreiml hin. Dieser Ansatz, so der Referent, sei aber kritisch zu sehen. Denn dabei werde „die Angewiesenheit des Menschen auf die Gnade Gottes in Abrede gestellt". Kreiner befinde sich damit „in einer Sackgasse“, stellte Kreiml fest. Er selbst stellte diesen Theorien die "Theologie des Kreuzes" gegenüber. Die Frage nach dem Leiden sei eine Frage des Mitleidens, sagte der Fundamentaltheologe. Gott habe das Leiden aus der Welt nicht genommen, sondern geändert. Die einzig wahre Rechtfertigung des Leidens bestehe darin, dass Gott selbst das Leid auf sich genommen habe. Durch den Tod und die Auferstehung Jesu gebe es eine neue Art des Leidens: eine Liebe, die die Welt verwandelt, betonte Kreiml abschließend.
Prof. Dr. Josef Kreiml
Gott und das Leid.
Die Theodizeefrage als Herausforderung der Theologie
Philosophisch-Theologische Hochschule der Diözese St. Pölten
Antrittsvorlesung am 28.01.2004
1. Einleitung
In einem Gespräch mit der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ (vom 29.12.1999, 41 f, hier 42) hat der Turiner Philosoph Norberto Bobbio folgende zugespitzte Bemerkung von sich gegeben: „Der Papst kann zwar den Krieg verdammen, aber er kann kein Erdbeben verurteilen.“ Kriege und Erdbeben - damit sind die beiden zentralen Problemkreise der Theodizeefrage benannt: die moralischen Übel und die natürlichen Übel. Wie kann man in einer Welt, in der Menschen unsäglich leiden müssen, an einen gütigen und allmächtigen Schöpfergott glauben? Die große Zeit des theologischen Disputs über die Theodizeefrage liegt heute keineswegs hinter uns. Dies beweist die beträchtliche Anzahl neuerer Publikationen zu dieser Thematik. Johann Baptist Metz behauptet sogar, die Theodizeefrage sei „zum Schicksalsort der Gottesfrage geworden“. Eines ist jedenfalls klar: Eine Theologie, die sensibel ist für die Leiderfahrungen der Menschen, „geht nicht von Grenzphänomenen, sondern von der Mitte und Tiefe des Menschseins aus“ (Walter Kasper, 202).
In den letzten Jahren sind die unterschiedlichsten Ansätze einer Theodizee intensiv diskutiert worden. So hat sich z. B. Gerd Neuhaus mit den Theodizee-Entwürfen bei Rahner, Pannenberg, Moltmann und Jüngel auseinandergesetzt. Vor nicht allzu langer Zeit hat Armin Kreiner mit einem eigenen Diskussionsbeitrag zur Theodizeefrage eine neue Debatte ausgelöst. Diesem Entwurf soll heute unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. Ziel meiner Ausführungen wird es sein, die Grundoptionen dieses Ansatzes kritisch zu beleuchten.
Der atheistisch gesinnte Rechtsphilosoph Norbert Hoerster hat den Entwurf des Münchener Fundamentaltheologen auffallend positiv gewürdigt: Mit Kreiner stellt sich - so Hoerster - erstmals seit Jahrzehnten ein deutscher Theologe dem Theodizeeproblem mit einer Strategie, die sich nicht so leicht ad absurdum führen läßt. Kreiner wirke dem schlechten Ruf, in den seine theologische Disziplin aufgrund einer weitverbreiteten „Pastoralrhetorik“ unter denkenden Menschen geraten ist, entgegen. Aufgrund seiner argumentativen „Offenheit und Klarheit“ stelle Kreiners Entwurf für Gläubige und Ungläubige eine „erhebliche Herausforderung“ dar. Mit seinem Plädoyer für die free-will-defense (Verteidigung der Theorie vom freien Willen) bewege sich Kreiner „auf der Höhe analytischen Philosophierens“. Freilich kommt Hoerster insgesamt zu dem Ergebnis, daß Kreiners Antwort „letztlich nicht überzeugen kann“. Gerd Neuhaus wendet gegen Kreiner, der in seinem Entwurf v.a. Positionen angloamerikanischer Provenienz zum Leuchten bringen will, ein, daß die deutschsprachige Theologie in der Wahrnehmung theodizeerelevanter Fragen „keineswegs sosehr mit leeren Händen“ dasteht wie Kreiner es glauben macht.
2. Kreiners Theodizee-Entwurf: Kritische Darstellung und Anfragen
2.1. Der Versuch, über die „reductio in mysterium“ hinauszukommen
Unter dem Titel „reductio in mysterium“ (d.h. „Rückführung ins Geheimnis Gottes“) subsumiert Kreiner alle Positionen, die die vorläufige theoretische Unlösbarkeit des Theodizeeproblems behaupten, dabei aber am theistischen Bekenntnis festhalten (z.B. die Ansätze Rahners, von Balthasars). Exemplarisch hat diese Position Karl Rahner formuliert, wonach die Unbegreiflichkeit des Leids ein Moment der Unbegreiflichkeit Gottes selbst sei (vgl. Warum, 463). Das Faktum des Leids stellt für das christliche Bekenntnis ein Geheimnis dar, dessen Sinn sich vom menschlichen Standpunkt aus nicht ergründen läßt. In der Regel geht die „reductio in mysterium“ mit der Hoffnung einher, daß Gott dem Menschen im Eschaton seine Gründe für die Zulassung der Übel zu verstehen geben wird.
In geradezu klassischer Weise hat diese Hoffnung Romano Guardini zum Ausdruck gebracht: Guardini will sich im letzten Gericht nicht nur Fragen stellen lassen. Vielmehr will er auch selbst Fragen an Gott richten; er hofft, dann Antwort zu erhalten auf die Frage, die weder Schrift noch Dogma, weder Lehramt noch Theologie beantworten können, nämlich die Frage: Warum, o Gott, die fürchterlichen Umwege zum Heil? Warum das Leid der Unschuldigen? Warum die Schuld? - Soweit Guardini. Einer - mit der „reductio in mysterium“ verbundenen - vorläufigen Theologie des Schweigens korrespondiert die Hoffnung auf die Beantwortung der Frage nach dem Warum des Leidens durch Gott am Ende der Geschichte.
Kreiner konzediert, daß die sog. „reductio in mysterium“ eine „logisch durchaus konsistente Position“ (70) formuliert. Die These von der vorläufigen Unerkennbarkeit der Gründe Gottes für die Zulassung des Leids stellt gleichsam den „letzten Ausweg“ des theistischen Apologeten dar. Kreiner selbst ist freilich der Überzeugung, daß die weitere Suche nach Gründen der Leidzulassung durch einen allmächtigen und gütigen Gott nicht „apriori aussichtslos“ (71) ist. Angesichts der immensen Relevanz der Leidthematik wäre die Weigerung, sich um eine weitere Erhellung prinzipiell einsehbarer Gründe zu bemühen, nicht zu rechtfertigen.
2.2. Der Versuch, die Essentials der augustinischen Erbsündenlehre auf die innergeschichtliche Ebene zu transponieren
In seiner „Quaestio“ aus dem Jahr 1997 setzt sich Kreiner intensiv mit der augustinischen Erbsündenlehre auseinander, in der jegliches Übel als Sünde bzw. als Strafe für die Sünde verstanden wird. Im Zentrum dieser Lehre steht eine Art „Vergeltungslogik“, die die Verantwortung für den leidverursachenden Zustand der Welt dem Versagen des paradiesischen Menschen anlastet. Das Leid - als Folge gerechter Strafe verstanden - bildet nach diesem Erklärungsmodell keinen Einwand gegen den Glauben an einen sittlich vollkommenen Gott. Selbst in säkularisierten Kontexten ist diese Sichtweise (das Leid als Sündenstrafe verstanden) sehr verbreitet. In der Konsequenz dieses Verständnisses stellt sich das Theodizeeproblem „nur noch“ (143) als Frage nach dem Leid der Unschuldigen. Man kann zwei Spielarten dieser Vergeltungslogik unterscheiden, nämlich a) eine individuelle Vergeltungslogik und b) eine kollektive Vergeltungslogik (wie sie in der christlichen Erbsündenlehre formuliert ist).
a) Das Scheitern der individuellen Vergeltungslogik
Schon im Alten Testament werden - angesichts des Leidens des gerechten Ijob - „radikale Zweifel“ (146) an der individuellen Vergeltungslogik laut. In der Einsicht, daß es Sündern gut gehen kann, während Gerechte leiden müssen (vgl. Koh 8,14 / 9,2 f / Ps 73), ist der „massivste Einwand“ gegen die individuelle Vergeltungslogik zu sehen. Vollends widerlegt wird diese Logik durch die Tatsache, daß sogar schuldunfähige Kinder leiden müssen. In diesem Zusammenhang kann auch auf lehramtliche Texte verwiesen werden: In der Bulle „Ex omnibus afflictionibus“ (1572) des Papstes Pius` V. wird der (Michael Bajus zugeschriebene) Satz verurteilt, alle „Drangsale der Gerechten ... (seien) ganz und gar Strafen für ihre eigenen Sünden“ (Denzinger 1972; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Konstitution „Unigenitus Dei Filius“ [1713] = Denzinger 2470).
Als Reaktion auf die „offensichtlichen Ungereimtheiten“ der individuellen Vergeltungslogik hat man in der Theologiegeschichte nach anderen Interpretationen Ausschau gehalten: Das Leid wurde dann gedeutet 1) als erzieherisches Mittel Gottes (vgl. Spr 3,12: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er ...“), 2) als Mittel zur Erprobung des Glaubensgehorsams, 3) als der Läuterung des Sünders dienlich. 4) Auch mit dem postmortalen Ausgleich für auf Erden erlittenes Unrecht wurde vielfach argumentiert.
b) Kreiners Kritik der augustinischen Erbsündenlehre
Die beiden wichtigsten Pole, zu denen sich die theologisch-dogmatische Deutung des Leidproblems entfaltete, bilden die Erbsünden- und Erlösungslehre. Die klassische neutestamentliche Belegstelle für die Erbsündenlehre ist in Röm 5,12 („Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“) zu sehen. Der Tod und die Leidensfähigkeit des Menschen werden nach dieser Glaubenslehre nicht nur als Folge der Ursünde, sondern auch als Strafe für die Ursünde gesehen. Herman Schell hat in Bd. 2 seiner Dogmatik von 1890 geradezu von einer „Theodizee der Erbsünde“ gesprochen. Bei Augustinus fungiert - neben der Universalität des Todes - das Faktum, daß Kinder leiden müssen, als „schlagendes Argument“ (153) für die Gegebenheit der Erbsünde.
1) Das Problem der Gerechtigkeit?
Die kollektive Vergeltungslogik der augustinischen Erbsündenlehre basiert - so Kreiner - auf einem „problematischen Gerechtigkeitsverständnis“ (158), das nicht erst dem moralischen Empfinden der Moderne widerspricht. „In höchstem Maße ungerecht wäre insbesondere eine ewige Höllenstrafe aufgrund von Sünden, die von anderen begangen wurden“ (158). Augustinus ist sich der Brisanz dieser Problematik durchaus bewußt gewesen. Deshalb klingt in „De libero arbitrio“ („Vom freien Willen“) eine Theodizee an, die jenseits der Logik von Sünde und Strafe angesiedelt ist (z.B. III, 56): Unwissenheit und Unvermögen seien nicht mehr als Sündenstrafen zu verstehen, sondern als Voraussetzung und Mahnung zu Fortschritt und Vervollkommnung der Seele (vgl. 159).
2) Historische und logische Probleme der Erbsündenlehre?
Neben diesem Problem der Gerechtigkeit wirft - so die These Kreiners - insbesondere die mythologische Einkleidung der traditionellen Erbsündenlehre „weitere historische und logische Probleme auf“ (160). Damit spricht Kreiner das Problem an, wie die klassische Erbsündenlehre mit Ergebnissen der modernen Wissenschaften kongruent gemacht werden kann (vgl. z.B. das Problem Mono- bzw. Polygenismus). Ich kann die Problematik dieser Fragen aus Zeitgründen hier nur andeuten, aber nicht diskutieren.
Kreiner stellt in seiner Augustinus-Kritik zwar fest, daß sich die Erbsündenlehre „im Lichte der modernen menschheitsgeschichtlichen Erkenntnisse neu interpretieren“ (160) läßt. Das entscheidende Manko seines Buches besteht aber darin, daß er der neueren hermeneutischen Diskussion über die Erbsündenlehre keine Aufmerksamkeit schenkt. Vielmehr weist er die gesamte Erbsündenlehre - mit Bezug auf seinen Gewährsmann John Hick - pauschal und undifferenziert zurück. Kreiners Position bezüglich der Erbsündenlehre basiert auf einer seltsamen Inkonsequenz. Ich versuche, diesen Vorwurf zu begründen. „Der entscheidende Einwand“ gegen die Erbsündenlehre besteht - so Kreiner - darin, daß auf der Ebene dieses Erklärungsmodells dem Schöpfergott „letzten Endes auch die Verantwortung für die Sünde zufallen würde“ (161). Gleichzeit versieht er - an anderer Stelle - diese Bewertung mit der Einschränkung, „zumindest“ (160) die Versuchbarkeit des paradiesischen Menschen fiele als gravierender Mangel auf den Schöpfer selbst zurück.
Kreiner verweist in diesem Zusammenhang zwar auf den amerikanischen Theologen Reichenbach (Evil and a Good God, 1982), der John Hick im Hinblick auf die Erbsündenlehre „mehrere Mißverständnisse“ (162 Anm. 94) vorwirft und gegen diesen pluralistischen Religionstheologen - m. E. mit vollem Recht - einwendet, die Versuchbarkeit des ersten Menschenpaares widerspreche „nicht der ursprünglichen Güte Gottes“. Die Freiheit des Geschöpfes impliziert nämlich die Versuchbarkeit. Kreiner dispensiert sich davon, diese überzeugende Erwiderung Reichenbachs zu diskutieren. Stattdessen folgt er Hick völlig kritiklos, wenn er folgende Behauptung aufstellt: „In jedem Fall trägt Gott auch die Verantwortung ... für den paradiesischen Sündenfall“ (162).
Eine Interpretation, die die moralische „Schuld“ für die Versuchbarkeit des paradiesischen Menschen Gott zuschieben will, ist theologisch unhaltbar. Dies zeigt sich bereits an der bloßen Tatsache, daß Kreiner selbst im Rahmen seiner eigenen free-will-defense (wie wir noch sehen werden) die Möglichkeit, daß der Mensch böse Handlungen begehen kann, dem Schöpfergott gerade nicht in theodizeerelevanter Weise als „Schuld“ anrechnen wird. Die entscheidende Inkonsequenz in Kreiners Theodizee-Entwurf besteht also darin, daß er die Erbsündenlehre mit einem Argument verwirft, auf das er sich in seiner eigenen Theorie später stützen wird und stützen muß.
c) Das positive Anliegen: Der Rückgriff auf voraugustinische Traditionen
Die zentrale Intention von Kreiners Kritik der Erbsündenlehre besteht in dem Versuch, die Essentials dieser Lehre auf die innergeschichtliche Ebene zu transponieren. Die Frage, warum Gott den Menschen als ein Wesen erschaffen hat, das sündigen kann, haben schon die christlichen Theologen der ersten Jahrhunderte mit dem Hinweis auf den hohen Wert der menschlichen Willensfreiheit beantwortet (vgl. dazu auch Augustinus, De civitate Dei XII, 6 f / XIII, 14).
Augustinus hingegen hat sich durch eine „radikale Deutung“ der Erbsündenlehre immer entschlossener auf eine Lösung versteift, in der die Willensfreiheit „eigentlich nur mehr in der paradiesischen Ouvertüre eine Rolle spielt“, während in seiner Interpretation des infralapsarischen, geschichtlichen Menschen „das Vergeltungsschema dominiert“ (Leid als Strafe). Kreiner wendet sich - mit durchaus diskussionswürdigen Gründen - gegen eine extreme „Theodizee der Erbsünde“, in der sich die Logik der Strafe zunehmend verselbständigt hat. Er will vermeiden, daß die Willensfreiheit ausschließlich als unabdingbare Voraussetzung der paradiesischen Ursünde begriffen wird. Kreiner sieht in der Freiheit des geschichtlichen Menschen einen eminenten Wert, „der die Möglichkeit der Sünde wie auch deren Zulassung durch Gott rechtfertigt“ (163). Die Willensfreiheit des Menschen ist jener zentrale Wert, dessen Realisierung „unausweichlich auch das Risiko von Leid zur Folge hat“ (163).
2.3. Das Argument der Willensfreiheit: Die Durchführung des Transponierungsversuches
Die Willensfreiheit stellt einen grundlegenden anthropologischen Wert dar, der für das Selbstverständnis des Menschen als eines sittlichen Wesens konstitutiv ist. Die Willensfreiheit ermöglicht das personale Sein des Menschen. Im Kontext der Evolution von Lebensformen ermöglicht sie eine qualitativ neue Daseinsstufe. Die Realisierung einer ethisch signifikanten Willensfreiheit setzt einen Freiheitsspielraum voraus, der dem Menschen auch die Möglichkeit eröffnet, anderen Lebewesen Leid zufügen zu können. In einer leidfreien Welt wären ethische Kategorien ebenso sinnlos wie in einer durchgängig determinierten Welt. Wenn Gott freie Wesen schaffen will, ist er - aus logischen Gründen - gezwungen, auch das Risiko moralischer Übel in Kauf zu nehmen. Mit der Erschaffung freier Wesen verfolgt Gott das Ziel, daß sich der Mensch zu einem sittlichen Wesen entwickeln kann. Die entscheidende Einsicht der traditionellen Erbsündenlehre besteht nach Kreiner in der Erkenntnis, daß zur Grunddisposition menschlichen Verhaltens unmoralische Neigungen gehören, denen der Mensch aufgrund moralischer Einsichten widerstehen kann. Die Neigung des Menschen zur Sünde sei eine Disposition der menschlichen Natur, die sich aus animalischen Anfängen entwickelt hat. Die Verantwortung für diese Disposition zum Negativen falle unmittelbar auf Gott zurück, sofern er für die Beschaffenheit der menschlichen Natur verantwortlich ist. Der Ausfall der Erbsündenlehre bei Kreiner wirkt sich hier fatal aus. Dieser Ausfall hat zur Folge, daß die Verantwortung für die menschliche Neigung zum Bösen Gott in die Schuhe geschoben wird. Während die klassische Erbsündenlehre die Disposition zum Bösen als Folge der Erbsünde interpretiert, versteht Kreiner die Neigung des Menschen zum Bösen als Element der von Gott geschaffenen menschlichen Natur. Angesichts böser Inklinationen erhalten - so Kreiner - gute Handlungen einen ungleich höheren ethischen Stellenwert. Insofern sei in den negativen Neigungen des Menschen der „Ermöglichungsgrund“ zur Ausbildung sittlicher Tugenden zu sehen.
Mit dieser Position kommt Kreiner dem Versuch Teilhard de Chardins sehr nahe, der das Böse ebenfalls als unvermeidliches Nebenprodukt der Evolution verstehen wollte. Diese konzeptionelle Parallele zu Teilhard de Chardin wird von Kreiner aber mit keinem Wort erwähnt.
a) „Theodizee der Seelenbildung“: der personale Reifungsprozeß des Menschen
Kreiner übernimmt von John Hick, der als Vertreter der pluralistischen Religionstheologie bekannt geworden ist, die These, wonach in der Seelenbildung (Hick spricht von „soul-making“ bzw. „person-making“) das „Telos des menschlichen Daseins“ (237) liegt. Das Ziel des individuellen Menschenlebens besteht demnach in einem eschatologischen Zustand, der durch einen langwierigen (moralischen und spirituellen) Reifungsprozeß herbeigeführt werden soll. Das Endziel dieses Entwicklungsprozesses ist die von Gott intendierte personale Vollendung des Menschen.
b) Das Leid als Preis der Freiheit und der Liebe
Die free-will-defense läuft letzten Endes auf die „Schlüsselfrage“ hinaus, ob die Erschaffung freier Wesen den Preis wert war, der in Form zahlloser Leiden zu bezahlen ist. Kreiner übernimmt hier die Position Gisbert Greshakes, der die Überzeugung vertritt, das Leid sei der Preis der Freiheit und somit der Preis der Liebe. Liebe setzt notwendig Freiheit voraus. „Liebe ohne Leid wäre wie ein hölzernes Eisen“ (Greshake, 46). Das hier im Kontext der Theodizeefrage vorgebrachte Argument der Willensfreiheit beruht also auf Wertprioritäten, die ein integrales Element des Bekenntnisses zum Gott der jüdisch-christlichen Offenbarung bilden, der den Menschen erschaffen hat, um mit ihm in eine Relation gegenseitiger Liebe zu treten. Das Ziel der Realisierung der menschlichen Willensfreiheit kann freilich nicht jedes Risiko und jedes Ausmaß an Leid rechtfertigen. Es ist ein Ausmaß an Leid denkbar, das die free-will-defense zum Scheitern verurteilen würde. So wäre z.B. die Existenz freier Wesen, die einander grenzenloses Leid zufügen können, mit dieser Theorie nicht zu rechtfertigen.
Der Oxforder Religionsphilosoph Richard Swinburne betont in diesem Zusammenhang, daß der Tod des Menschen gleichsam Gottes „Sicherheitsschranke“ („safety barrier“) gegen die Möglichkeit grenzenloser Leidzufügung ist. Der Tod setzt dem Ausmaß des Leids, dem Menschen ausgesetzt sein können, eine definitive Grenze.
c) Kritische Anfrage: Welches Gewicht kommt der göttlichen Gnade zu?
Welche Überzeugungskraft kann - so müssen wir kritisch anfragen - die free-will-defense im Kontext der Theodizeefrage beanspruchen? M.E. gerät dieses Konzept letztlich in schwerwiegende theologische Aporien. Diese Aporie besteht darin, daß Kreiner im Rahmen seines Argumentes eine Vorstellung von der eschatologischen Vollendung des Menschen entwickelt, in der der Mensch nicht mehr auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes angewiesen ist. An diesem Punkt gerät das Argument der Willensfreiheit in eine Sackgasse: In der Tatsache, daß die free-will-defense für die gnadenhafte Rechtfertigung des Menschen kaum noch einen Platz läßt, ist der gravierendste Einwand gegen diese Theorie zu sehen. Das Konzept der free-will-defense läuft in letzter Konsequenz auf die „Selbsterlösung“ des Menschen hinaus.
Wenn Gottes Wille auf die personale Vervollkommnung des Menschen hinzielt, dann ist - so Kreiner - nüchtern festzustellen, daß die meisten Menschen zum Zeitpunkt ihres Todes dieses spirituelle Ziel nicht erreicht haben. Soweit kann man durchaus zustimmen. Zu meinem Erstaunen findet sich in Kreiners „Quaestio“ dann aber folgender Satz: „... der naheliegende Versuch, im Hinblick auf die postmortale Vollendung auf die Wirksamkeit von Gottes Gnade und Barmherzigkeit zu vertrauen, ... droht ... das gesamte Argument (der free-will-defense; J.K.) zu unterminieren“ (270). Die Logik des Argumentes, auf das sich Kreiner - mit John Hick und anderen - stützt, läuft unweigerlich auf eine höchst problematische Werkgerechtigkeit hinaus. Für das „sola gratia“, auf das uns die Reformation aufmerksam gemacht hat, bleibt hier absolut kein Platz mehr. Kreiner veranschaulicht seine merkwürdige Infragestellung der Angewiesenheit des Menschen auf die göttliche Barmherzigkeit am Beispiel des Todes eines Kleinkindes, das noch nicht zum Freiheitsgebrauch gekommen ist. Ich zitiere hier eine längere Passage, die die problematische Argumentation Kreiners sehr deutlich zum Ausdruck bringt: „Würde beispielsweise die spirituelle Entwicklung eines Kleinkindes, das kurz nach seiner Geburt stirbt, nach seinem Tod durch die Gnade Gottes zu seiner personalen Vollendung geführt, so fände nicht nur kein freier und personaler Reifungsprozeß statt. Ein solcher Prozeß würde sich letzten Endes als völlig überflüssig erweisen. Wenn göttliche Gnade menschliche Freiheit prinzipiell ersetzen, statt ermöglichen und unterstützen soll, läßt sich der instrumentelle Wert der Willensfreiheit nicht mehr als Konstitutivum des Prozesses personaler Reifung behaupten“ (270).
Die Frage nach dem Schicksal verstorbener Kleinkinder läßt Kreiner hier völlig offen. Zweifelsohne ist der personale Reifungsprozeß im Verhältnis des Menschen zu Gott von eminenter Bedeutung. Soweit kann man Kreiner zustimmen. Für theologisch verfehlt halte ich jedoch seine Position, wonach es problematisch sei zu glauben, Gott würde einem Kind, das in einem Alter stirbt, in dem es noch nicht zu einer freien und personalen Entscheidung fähig ist, gnadenhaft die Vollendung schenken. Wieso sollte Gott im Falle des verstorbenen Kleinkindes, der in anthropologischer Hinsicht freilich einen Grenzfall darstellt, die heilsrelevante Freiheitsentscheidung des Menschen nicht durch einen Akt der Gnade ersetzen können? Kreiner scheint diese Möglichkeit auf das Basis seiner Argumentation zumindest zu bezweifeln, wenn nicht gar auszuschließen. Damit dürfte hinreichend klar geworden sein, in welche theologische Aporie das Konzept der free-will-defense am Ende führt.
Kreiners - auf Hick gestützte - Argumentation gerät in bedenkliche Nähe zu einem Selbsterlösungskonzept. Für die „individuelle Weiterentwicklung über die Grenzen des irdischen Daseins hinaus“ (271) postuliert Hick - durchaus folgerichtig - eine modifizierte Version der Reinkarnationslehre (die ihrerseits wiederum vom Verdienstgedanken beherrscht wird). Zur Erläuterung sei noch angemerkt, daß John Hick die Kantische Konzeption der Glückswürdigkeit des Menschen zugrundelegt, wonach das höchste Gut in der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit besteht (vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 193-223; Kreiner bezieht sich ausdrücklich auf Kants Religionsschrift A 45).
Walter Kasper (Der Gott Jesu Christi) weist in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hin, daß die neuzeitliche Idee von der Autonomie des Menschen - radikal zu Ende gedacht - die Idee eines Mittlers und damit eine Erlösung, die nicht Selbsterlösung und Selbstbefreiung des Menschen ist, grundsätzlich ausschließt. Die Hoffnung auf Erlösung und Befreiung durch Gott scheint in dieser Perspektive des neuzeitlichen Autonomiekonzepts die Freiheit des Menschen zu unterdrücken bzw. seinen Einsatz zu entwerten.
Damit haben wir Kreiners Argument der Willensfreiheit detailliert diskutiert. Im Hinblick auf die natürlichen Übel unternimmt Kreiner in seinem Buch den Versuch, die free-will-defense zu „erweitern“. Es wäre durchaus interessant, diesen Fragekomplex aufzugreifen. Aus Zeitgründen muß ich ihn jedoch ausklammern.
3. Eine Theologie des Kreuzes als Alternative
Johann Baptist Metz hat Kreiners Entwurf mit massiver Polemik überzogen. Seine Theodizee basiere auf einer „geschichtslosen Rationalität“ bzw. auf einem sterilen Vernunftbegriff. In Kreiners rationalistisch anmutendem Konzept fehlt die Rückfrage an Gott, die Gott selber klagend in die Verantwortung nimmt. Nicht nur Leiderfahrungen werden dafür in einer erinnerungsresistenten Vernunftsprache instrumentalisiert, auch Gott wird in eine „Allgemeinheit“ gezwungen, die ihn nicht mehr als den Gott der Gebete und Klagen erkennen läßt.
Ähnlich argumentiert Walter Kasper: War der Gesprächspartner der neuzeitlichen Theologie im Grunde der aufgeklärte Ungläubige, so müsse der Gesprächspartner einer heutigen Theologie der leidende Mensch sein, der Unheilssituationen konkret erfährt. Kasper fordert den Respekt vor dem Leiden des einzelnen Menschen, der nicht irgendein Fall des Allgemeinen ist. Hoffnung angesichts der Verzweiflung ist nur von der Erlösung her möglich. Die Frage nach dem Gott für die Leidenden ist die Frage nach dem Mit-Leid Gottes, nach der Identifikation Gottes mit dem Leiden und Sterben des Menschen. Die angesichts des Bösen und des Leidens gestellte Gottesfrage kann nur christologisch als Theologie des Kreuzes beantwortet werden. Peter Henrici hat mit Recht festgestellt, die „einzig wahre Theodizee“ bestehe in der Rechtfertigung des Leids „auf Grund des von Gott selbst getragenen Leids“. Die Passion Jesu verleiht dem Leiden des Menschen einen Sinn, indem sie es „zum Ort ... der Nachfolge Christi“, zum „Ort wirklicher Gottesbegegnung“ macht.
Eine Theologie des Kreuzes zeigt, daß Gott auf die Frage nach dem Leid mit dem Einsatz seines eigenen Sohnes antwortet. Die Antwort Gottes auf die Leidfrage besteht nicht in einer „Erklärung“ des Leids, sondern im wirklichen Mit-Leiden Christi. Was das bedeutet, können wir vor den großen Bildern des Gekreuzigten und vor den Pietà-Bildern lernen. Vor solchen Bildern hat das Leid ungezählter Menschen eine Verwandlung erfahren, weil sie erkannten, daß im Innersten ihrer Leiden Gott selber gegenwärtig ist. Solche Erfahrung hat den Menschen Trost gegeben und in ihnen die Liebe zu den Leidenden gestärkt. Der Gekreuzigte hat das Leiden aus der Welt nicht weggenommen. Vielmehr hat er durch sein Kreuz die Menschen verändert, ihr Herz den Leidenden zugekehrt. Im Blick auf das Kreuz Christi ist die Ehrfurcht vor dem Menschen gewachsen, jene Ehrfurcht, die der heidnischen Humanität fehlt, und die erlischt, wo der Glaube an den Gekreuzigten verschwindet. Das Kreuz und die Auferstehung Christi geben dem Leben einen tiefen Ernst und eine unerschütterliche Hoffnung.
Das Kreuz ist die Form jener göttlichen Liebe, die den Menschen ganz angenommen hat und daher auch in seine Schuld und in seinen Tod hinabgestiegen ist. Sie wurde als grenzenlose Liebe „Opfer“, die den Menschen durch die Nacht seiner Sünde hindurch zum Vater zurückträgt. Seit Golgotha kennen wir - so hat es Joseph Ratzinger ausgedrückt - eine „neue Art des Leidens“: Leid als Liebe, die die Welt verwandelt.
Ausgewählte Literatur:
· Beinert, W. (Hg.): Gott - ratlos vor dem Bösen? Freiburg 1999. (QD; 177)
· Carretto, C.: Warum, Herr? Erfahrungen der Hoffnung über das Geheimnis des Leids. Freiburg 1986
· Fuchs, G. (Hg.): Angesichts des Leids an Gott glauben? Zur Theologie der Klage. Frankfurt a.M. 1996
· Greshake, G.: Der Preis der Liebe. Besinnung über das Leid. Freiburg (7. Aufl.) 1988
· Henrici, P.: Von der Ungereimtheit, Gott zu rechtfertigen. In: Olivetti, M. M. (Hg.): Teodicea oggi? Padua 1988. 675-681
· ders.: Der „Tod Gottes“ in der Philosophie. In: IKaZ 32 (2003). 483-491
· Hoerster, N.: Rez. von: A. Kreiner. Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente. Freiburg 1997. In: FAZ Nr. 85/11.04.1998. 8
· Hoff, G. M.: Ist die „reductio in mysterium“ irrational? Zu A. Kreiners Quaestio Disputata. In: ZKTh 121 (1999). 159-176
· Kant, I.: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791). In: Kants Werke. Bd. 8. Berlin - Leipzig 1923. 253-271
· Kasper, W.: Der Gott Jesu Christi. Mainz (3. Aufl.) 1995.199-205
· Kreiner, Armin: Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente. Freiburg 1997. (QD; 168)
· Metz, J. B.: Die Rede von Gott angesichts der Leidensgeschichte der Welt. In: StZ 210 (1992). 311-320
· ders.: (Hg.): „Landschaft aus Schreien“. Zur Dramatik der Theodizeefrage. Mainz 1995
· Metz, J. B. / Reikerstorfer, J.: Theologie als Theodizee - Beobachtungen zu einer aktuellen Diskussion. In: ThRv 95 (1999). Sp. 179-188
· Neuhaus, G.: Theodizee - Abbruch oder Anstoß des Glaubens. Freiburg 1993
· ders.: Rez. von: A. Kreiner. Gott und das Leid. Paderborn 1994. In: ThRv 92 (1996). Sp. 130-136
· ders.: Frömmigkeit der Theologie. Zur Logik der offenen Theodizeefrage. Freiburg 2003 (QD; 202)
· Oelmüller, W. (Hg.): Theodizee - Gott vor Gericht? München 1990
· Rahner, K.: Die menschliche Sinnfrage vor dem absoluten Geheimnis Gottes (1977). In: ders.: Schriften zur Theologie. Bd. 13. Zürich u.a. 1978. 111-128
· ders.: Warum läßt Gott uns leiden? In: ders.: Schriften zur Theologie. Bd. 14. Zürich u.a. 1980. 450-466
· Ratzinger, J.: Die Frage Ijobs. In: ders.: Der Gott Jesu Christi. Betrachtungen über den Dreieinigen Gott. München (2. Aufl.) 1977. 40-46
· Stump, E.: Die göttliche Vorsehung und das Böse. Überlegungen zur Theodizee im Anschluß an Thomas von Aquin. Frankfurt a. M. 1989. (FHSS; 8)
· Wagner, H. (Hg.): Mit Gott streiten. Neue Zugänge zum Theodizee-Problem. Freiburg (2. Aufl.) 1998. (QD; 169)