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Diözesanbischof Dr. Kurt Krenn von St. Pölten

 

UNUS IN CHRISTO
Johannes Paul II. - 15 Jahre im Dienst der Kirche Christi
als Statthalter Christi und Nachfolger des Petrus
Vortrag in Lublin und Warschau am 22. Oktober 1993

1. Auch noch im nächsten Jahrtausend, auf das wir zugehen, wird man die Jahre, die Gott seiner Kirche als den Dienst unseres Heiligen Vaters, Papst Johannes Paul II., schenkte, für sehr entscheidende Jahre der Kirchen- und Weltgeschichte halten. Heute versammeln wir uns, um dem Erlöser des Menschen, dessen Statthalter auf Erden der Papst ist, unseren Dank zu sagen für das Gnadengeschenk, das wir in der Person und im Wirken unseres Heiligen Vaters seit dem 16. Oktober 1978 erfahren. 15 Jahre nun dient Johannes Paul II. als der Nachfolger Petri der Kirche Christi. Der Herr erhalte ihn noch viele Jahre der Kirche, die durch seine Botschaft von der Erlösung des Menschen zu neuem Tun und zu großen Zielen aufgebrochen ist. Menschliches Rühmen und Loben hat auch an diesem Gedenktag keinen rechten Platz, denn wir alle stehen mit dem Heiligen Vater unter dem Wort Jesu: "Servi inutiles sumus; quod debuimus facere, fecimus - Wir sind unwürdige Knechte. Wir haben nur unsere Schuldigkeit getan" (Lk 17,10).

2. Die ganze Kirche und die ganze Welt horchten auf, als die zur Papstwahl versammelten Kardinäle am 16. Oktober 1978 den Krakauer Erzbischof Karol WOJTYLA zum Bischof von Rom und Nachfolger Petri wählten. Vieles war an diesem Ereignis unerwartet. "Polonia semper fidelis" schenkte der Kirche den ersten Papst aus Polen; die Kirche in den Ländern der Verfolgung und Unterdrückung trat in ein neues Licht. Mit dem Papst aus Polen wurden die gedemütigten Glaubensbrüder zu einem "Zeichen der Zeit", das die Welt und die Kirche in den freien Ländern zu begreifen hatten.

1978 befand sich die Kirche in den freien Ländern in einer Phase der Mutlosigkeit und des Zweifels. Nicht wenige fragten nach den Früchten des Konzils angesichts von Abfall, Säkularisierung, Dissens mit dem Lehramt, Kontestation mit der hierachischen Autorität, Transzendenzverlust auf allen humanen Ebenen, Protest gegen das Kreuz Christi und Relativierung der Wahrheit zur individuellen Meinung und zum Interessenskalkül; sie verfielen in Mutlosigkeit oder in unkirchlichen Eigensinn. Es war der Zeitpunkt gekommen, dem Konzil eine zeitlose und zugleich zeitgemäße Konkretheit zu geben, in der der Mensch im Glauben und Tun der Kirche seine ureigenste Sache erkennen konnte.

Immer mehr drängt die Frage nach der Wahrheit über den Menschen in den Vordergrund; denn weder Wirtschaftsordnungen, weder administrative Strukturen, weder demokratische und politische Ordnungen, weder Verteilungsprinzipien und Interessensabwägung können die Welt des Menschen in Frieden und Würde garantieren. Die geschaffene sichtbare Welt zeigt sich mehr denn je als der "vanitas" (Vergänglichkeit) unterworfen, sie seufzt und liegt in Geburtswehen (vgl. Röm 8,20-22; RH 8): Sie erlebt die Vergiftung und Zerstörung der Umwelt, sie erleidet grausame Kriege, sie steht mit ihren Atomwaffen am Rand der Selbstzerstörung, sie hat die Ehrfurcht vor dem Leben des ungeborenen Kindes verloren; sie erlebt den ungeahnten, aber auch bedrohenden Fortschritt in Technik und Wissenschaften. Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes (vgl. Röm 8,19). Dieser Situation ist sich Johannes Paul II. bewußt, wenn er die erste Enzyklika seines Pontifikates verfaßt: Redemptor hominis. Es ist die Frage nach dem Erlöser des Menschen, die wie ein ständig identisches Thema das Tun und Lehren des Papstes bis zum heutigen Tag durchzieht.

3. Die Kirche steht heute gegenüber vielen Ideologien, Idealen und verschiedensten Sinnangeboten im Wettstreit um den Menschen, der sich in seiner Freiheit für die Wahrheit, aber auch für den Irrtum oder die Selbstzerstörung entscheiden kann. Es kann in unserer Zeit nicht genügen, ein Bild vom Menschen zu konstruieren, das alle möglichen Regeln von Demokratie, Ökonomie, Ökologie, Humanwissenschaften, Politik, Kultur und Lebenserfahrung in sich vereint, aber in der Relativität und Fehlbarkeit der Menschheitsgeschichte sich gestaltet. Unser Heiliger Vater wußte längst aus seinem Beten, Lehren und Nachdenken, daß ein bloßes Bild vom Menschen, aus menschlicher Einsicht und Erwartung gebildet, weder Würde und Rechte des Menschen gewährleisten noch den Menschen von der Entfremdung von sich selbst in der Sünde befreien konnte. Johannes Paul II. lehrt die Menschen weder ein Erziehungsprogramm noch eine nachahmenswerte Idee vom Menschen. Er verkündet nicht "Lehren" und nicht "Methoden", er verkündet vielmehr den "Erlöser des Menschen", der selbst ein Mensch ist, aber nicht der gewöhnlichste der Menschen; der Erlöser des Menschen ist der vollkommene Mensch, uns in allem gleich, ausgenommen die Sünde. Der Erlöser ist es, der den sündigen Kindern Adams das Abbildsein Gottes zurückgibt (vgl. RH 8).

4.1 Wie das II. Vatikanische Konzil feststellte, ist der Mensch die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte (sichtbare) Kreatur (vgl. GS 24). Sollte nach Gottes Willen der Erlöser des Menschen selbst ein Mensch sein, mußte er zugleich mehr als ein Mensch sein: Sohn Gottes, wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich. Nur der Schöpfer des Menschen konnte auch in diesem Sinn der Erlöser des Menschen sein. Denn der vollkommene Mensch, der dem Menschen den Menschen kundtut, mußte heilig und ohne Sünde sein; nur Jesus Christus, der Gottmensch, konnte als Mensch in jener Höhe eintreten, die der Schöpfer dem Menschen zugedacht hatte. Theologisch ist sicher jene Konklusion problematisch, daß der Erlöser des Menschen konkreter vollkommener Mensch und wahrer Gott zugleich sein muß; die hohe Würde des Menschen läßt jedoch nicht zu, daß der Erlöser des Menschen nur ein Mensch, ein Lehrer, ein Prophet, ein Gleichrangiger ist. Gott mußte seine eigene Menschwerdung wollen, wenn er den Menschen in jener Höhe der Würde erlösen wollte, in die es durch die Sünde Adams keinen Zutritt für den "bloßen" Menschen gab.

4.2 Kein Mensch, der sündig ist und in der Erbsünde Adams geboren wird, kann des Menschen Erlöser sein, um dem Menschen die Würde der Gottabbildlichkeit zurückzugeben; der "bloße" Mensch kann Lehrer und Erzieher des Menschen sein, er kann sich jedoch nicht mit dem zu erlösenden Menschen vereinen, um ihn zu erlösen. Jener jedoch, der das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (vgl. Kol 1,15) von Ewigkeit ist, konnte in seiner Menschwerdung der vollkommene Mensch und wahre Gott sein, in dem die menschliche Natur aufgenommen und für uns Menschen zur Höhe der Menschenwürde erhoben ist. Die Höhe der Würde ist es, in der der Sohn Gottes in seiner Menschwerdung sich gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt (vgl. RH 8, GS 22). Gleichsam im Raum der wiedergewonnenen Würde ereignet sich die Vereinigung des Erlösers mit dem Menschen, sodaß durch den Erlöser die Fülle der Gerechtigkeit und Gotteskindschaft dem Menschen zuteil wird. Im Verhältnis der Würde, das durch den Erlöser in jedem Menschen konkret wird, gibt es kein anderes als das Verhältnis der Liebe.

4.3 Was dem durch Christus erlösten Menschen widerfährt, ist dies: Christus der neue Adam, macht in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung (GS 22). Das Geheimnis des Menschen klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes wahrhaft auf (vgl. ib.). Das Ereignis der Erlösung ist jedoch kein Kollektives; was in der Erlösung geschieht, geschieht wahrhaft und ganz in jedem einzelnen Menschen. So verkündet Johannes Paul II. durch Gal 3,28 das Gemeinschaftliche der Erlösung in der Ganzheitlichkeit für jeden einzelnen Menschen, der in seinem Dasein und in seiner Würde einmalig und unwiederholbar ist: "omnes vos unus estis in Christo Jesu." Unus in Christo: Jedem Menschen fällt in Christus das Werk der Schöpfung und Erlösung Gottes zu; das Wesen der Liebe Gottes ist auch in einem einzigen Menschen ausgesprochen und erfüllt; gleichzeitig nimmt jeder erlöste Mensch an jener unteilbaren Liebe Gottes teil, die unendlich und in jedem Menschen wahrhaft und ganz verwirklicht ist.

5. Es ist eine plausible Erkenntnis, daß der Mensch die Gemeinschaft braucht: die Familie, den Staat, die Kirche und viele andere gemeinschaftliche Gebilde. Vieles in der Entfaltung seiner Persönlichkeit könnte der Mensch ohne Gemeinschaft nicht erreichen; vieles Menschliche ist nur in gemeinschaftlicher Anstrengung und in Gemeinschaft möglich. Dennoch liegt das Wesen des gottgeschaffenen Menschen vor allem Gemeinschaftlichen; der Mensch, nicht die Gemeinschaft der Menschen, ist jene einzige Kreatur auf Erden, die Gott um ihrer selbst willen wollte. Was für den Menschen wesentlich ist: der Geist, das Denken und Erkennen, das Wollen und die Freiheit, das Daseinsrecht und die Verantwortung, die Würde und die Rechte, sind dem Menschen schon gegeben, ehe der Mensch sich in der Gemeinschaft entfaltet. Der Mensch, den Gott so wollte, von Ewigkeit erwählte und berief, zur Gnade und Glorie bestimmte, dieser Mensch selbst ist der ganze Mensch (omnis homo), der konkreteste, wirklichste Mensch; dieser Mensch hat in Christus Jesus Anteil an der Fülle des Geheimnisses Mensch; jeder einzelne von Milliarden Menschen hat Anteil an diesem Geheimnis (vgl. RH 13).

6.1 Im Denken unserer Zeit ist es üblich geworden, den Menschen nach seinen Tätigkeiten, Funktionen und Zusammenhängen mit anderen zu beschreiben und zu deuten; das bedeutet, daß der Mensch einer Unzahl von Verhältnissen bedarf, um als Mensch zu gelten. Johannes Paul II. jedoch sieht den Menschen in einem Sein, das ein Gottesverhältnis ist, aus dem sodann die sozialen Verhältnisse, Leben, Taten und die Geschichte des Menschen hervorgehen. So sagt er (in RH 21): "Für die Gemeinschaft des Volkes Gottes als ganze und für jedes ihrer Glieder geht es aber nicht nur um eine besondere 'soziale Zugehörigkeit'; hier handelt es sich um eine besondere 'Berufung', die für jeden einzelnen und für alle zusammen wesentlich ist".

6.2 Das Heilswirken Gottes ist auf den einzelnen Menschen jeweils als "besonderer Ruf" bezogen. Christus sagt zu jedem: "Folge mir"; jeder einzelne Mensch folgt auf je eigene Weise Christus. Dieser Ruf ist das "personale" Profil und die besondere Dimension dieser Gesellschaft, die gerade dadurch Gemeinschaft ist, daß alle sie mit Christus selbst bilden (vgl. RH 21).

6.3 Johannes Paul II. gibt im Personalen des Menschen dem "besonderen Ruf" den grundlegenden Vorrang im Heilswerk Gottes. Der Papst sieht in der "ontologischen" Gemeinschaft, die sich im Ruf begründet, auch die daraus folgende Notwendigkeit, eine "menschliche" Gemeinschaft zu werden, die sich ihres eigenen Lebens und Wirkens bewußt ist (vgl. RH 21). Das II. Vatikanische Konzil hat das Bild des Volkes Gottes dargestellt, doch betont der Papst, daß dieses Bild nicht nur von "soziologischen Voraussetzungen" abgeleitet ist. Mehr noch als um eine soziale Zugehörigkeit handelt es sich bei der Kirche um "eine besondere Berufung", die für jeden einzelnen und für alle zusammen wesentlich ist (RH 21). Personale und soziale Dimension lassen sich im Werk der Erlösung und in der Kirche nicht umdrehen, denn die soziale Dimension hat ihre Grundlegung in der personalen Dimension. Es ist die Treue zu jener Berufung, die wir durch Christus von Gott empfangen haben, die unsere solidarische Verantwortung für die Kirche mit sich bringt (vgl. RH 21).

7. Diese Feststellung des Vorranges des Personalen vor dem Sozialen läßt uns auch begreifen, daß sich alles im Menschen als Person begründet und gestaltet, was die Wahrheit über den Menschen, die Freiheit, die sittliche Entscheidung, die Würde und Rechte, das Gewissen, Sünde und Schuld, Verantwortung und Liebe, Glaube und Berufung, Gnade und Heil, Leben und Erlösung wesentlich ausmacht. Die Vorrangigkeit des Personalen schließt das Soziale der Gemeinschaftlichkeit nicht aus; das Soziale begründet jedoch nicht das Personale, während umgekehrt das Soziale im Verhältnis von Personen sich verwirklicht. In dieser Vorrangigkeit des einmaligen, einzigen und unwiederholbaren Personalen liegt das theologische Spezifikum von Johannes Paul II., welches das Herz seines Wirkens und Lehrens ist: Alles göttliche Wirken, alle Heilstaten Gottes, alle Wahrheit und alle Gemeinschaft der Liebe messen und rechtfertigen sich an der einzelnen menschlichen Person. Was nicht am Ernst der einzelnen Person einzubringen ist, kann nicht Erlösung sein; was der Mensch nicht als Person verantworten kann, ist nicht Verantwortung; was nicht als in der Person jeweils verwirklicht ist, kann nicht die göttliche Wahrheit über den Menschen sein; was nicht der Person entspringt, kann nicht Liebe sein; wenn es nicht die von Gott berufene und begnadete Person gibt, kann es keine Kirche geben. Viele andere Beispiele wären über das eine sagbar, daß die einzelne Person jenes Geschöpf ist, in das allein sich alles Wirken Gottes einbringt und in dem die Erlösung geschieht.

8. Dies ist der theologische Tiefensinn dessen, was Johannes Paul II. mit dem Galaterwort (Gal 3,28) zum Ausdruck bringt: Nichts an Herkunft, Situation oder Rolle ist dem Ernst und der Wahrheit des Menschen angemessen: Jude, Grieche, Sklave, Freier, Mann, Frau; die Wahrheit über den Menschen erhellt sich in Christus; Christus wiederum muß sich auf das Geheimnis und die Würde des einzelnen Menschen beziehen, um der vollkommene Mensch und Erlöser zu sein: ihr alle seid einer in Christus.

Die üblichen Weltanschauungen verlegen vieles Wesentliche des Menschen in die gemeinsame Anstrengung einer Menschengruppe, in die geschichtlichen Prozesse, in die Vergangenheit oder in den Aufschub in der Zukunft, in ein Gesamtresultat verschiedener Faktoren, in kollektive Entscheidungen, in repräsentative Mehrheiten, in anonyme Machtverhältnisse usw. Die theologische Glaubenslehre vom Menschen, die Johannes Paul II. entfaltet, stellt die Frage nach der Wahrheit über den Menschen jedoch als die Frage der Wahrheit dessen, der "einer" in Christus ist, der "einer" sein muß, um mit seiner eigenen Identität bis ins letzte konfrontiert zu sein, der "einer" in Christus sein muß, um seine Identität im vollkommenen Menschen und im Gottessohn Jesus Christus als völliges Offenbarsein zu empfangen: "Christus Redemptor ... hominem ipsi homini plene manifestat" (RH 10).

Alle Verhältnisse der sichtbaren Schöpfung bestehen und gestalten sich im Menschen; wer den Menschen als Person kennt, kennt damit auch die ganze Welt der außermenschlichen Gegebenheiten und Dinge. In einer Person allein schon ist alles zusammengefaßt, was Erkenntnis und Wahrheit ist. In einer Person stellt und beantwortet sich die Frage nach der Wahrheit über den Menschen, weil Christus in seinem vollkommenen Menschsein und in seinem Gottsein das Geheimnis des Menschen umgreift, durchwest, zur Transzendenz bringt und als Ernstfall der Liebe Gottes begnadet. Zuweilen war im theologischen Disput zu hören, Johannes Paul II. verkünde einen bloßen "Humanismus", der das Geheimnis der Erlösung so in die Naturhaftigkeit des Menschen einbinde, daß das bloße Humanum in seiner Ganzheit schon die Erlösung selbst sei. Was theologisch als reiner Humanismus erscheinen könnte, erfährt jedoch seine notwendige und legitimierende Aufklärung darin, daß es sich in der Glaubenslehre vom Menschen um einen "Humanismus in Personalismus" handelt. Der bloße immanente Humanismus, der eine Übernatürlichkeit, Transzendenz und Gnadenhaftigkeit ausschließt und verneint, hat keine legitime Begründung in dem, was Johannes Paul II. das "personale Profil" (vgl. RH 21) des Menschen im Heilswerk und in der Kirche lehrt. Der bloße immanente Humanismus ist die Folge eines transzendenzfremden Agnostizismus und eines Relativismus, der das Humanum wie ein umfassendes System aller möglichen menschlichen Bereiche deutet und nichts Höheres als das Gleichgewicht des Relativen gelten läßt.

9. Der theologische Entwurf in Redemptor hominis bringt eine Zusammenschau des Natürlichen und des Übernatürlichen, die das Einssein in Christus für den Menschen als freies Geschenk Gottes, der uns zuerst geliebt hat, als das bloß natürliche Vermögen des Menschen Überschreitendes und dennoch als das zutiefst Eigenste des Menschen vereinigt; es sind die theologischen Elemente: gratuitas, transcendentia, identitas, die das "unus in Christo" in jedem Menschen ausmachen. Der "Personalismus in Humanismus" ist jene Dimension, die den Menschen in seinem Daseinsverständnis dem Erlöser Christus zuordnet, die Selbstherrlichkeit des Menschen verneint und das Innerste des Menschen in Christus aufgehen läßt. Dies ist der theologische Entwurf des Papstes, der dem Menschen das Höchstmaß humaner Identität sichert und den Menschen zugleich als das höchste sichtbare geschöpfliche Geheimnis Gottes konkret und real bestehen läßt. Die theologische Durchdenkung des Menschen als "Person" hat in Johannes Paul II. über die katholische Soziallehre hinaus eine Erweiterung erfahren, die bisherige Gegensätze wie "natürlich - übernatürlich, Schöpfung - Erlösung, Glaube - Vernunft, Transzendenz - Identität, Individuum - Gemeinschaft, Sein - Handeln, Wahrheit - Liebe, Gott - Welt, Menschenwürde - Menschenleben" einer realen Mitte zuführt, die letztlich Christus selbst ist, der alles lebbar versöhnt und eint.

10.1 Als Johannes Paul II. seine Botschaft vom Erlöser des Menschen erstmals der Kirche vorlegte, konnte niemand wissen, welche Optionen und Spuren der Papst damit der Geschichte einprägen werde. Nach den politischen Ereignissen der Jahre 1989/90 fragt man sich heute noch, wer und was denn die Welt so überraschend verändert hätte. Auch von solchen, die keineswegs auf der Seite des Papstes und der Kirche stehen, wird Johannes Paul II. oft als der Anfang oder Auslöser dieser geschichtlichen Entwicklung gesehen. Es gibt die verborgenen Wege der göttlichen Vorsehung, die nicht nur das Ende der Zeiten der Herrschaft Gottes zuzuführen vermögen; die göttliche Vorsehung findet sicher auch immer wieder Wege, die uns kundtun, daß Christus der "erste Bürger" der Welt ist und in der Auseinandersetzung mit ihm die Sache des Menschen sich ständig ereignet.

10.2 Auch wenn wir die Ereignisse der vergangenen Jahre nicht nach dem Schematismus von Ursache und Wirkung darstellen können, hat durch die Glaubenslehre vom erlösten Menschen Johannes Paul II. eine Art "disclosure" (Erschließung) bewirkt, die die Welt und Geschichte nach der Würde der menschlichen Person ordnete und damit eine neue Wirklichkeit sichtbar machte, mit der weltweit gleichsam eine konnaturale Sympathie entstand, der sich auch jene nicht entziehen konnten, die nicht an Christus und Gott glauben. Es war so etwas wie das Ereignis einer neuen Menschenfreundlichkeit (vgl.Tit 2,11), die der Papst in Gang brachte, und nichts konnte die menschenverachtenden Systeme des Marxismus mehr in Frage stellen als die Menschenfreundlichkeit des Erlösers. Die Kirche wurde zu einem "Zeichen der Zeit", das nicht zu einem selbstherrlichen Humanismus einlädt; der Mensch jedoch ist gleichsam der Weg, den die Kirche in der Erfüllung ihres Auftrages ausmessen muß; der Mensch ist der erste und vornehmlichste Weg der Kirche, den Christus selbst aufgetan hat und der ständig durch das Geheimnis der Menschwerdung und Erlösung führt (vgl. RH 14).

10.3 Gegenüber einem Denken der Welt, das sehr wohl von Menschenwürde, von Menschenrechten und von Menschenwohl spricht, jedoch gleichzeitig voller Mißtrauen gegenüber dem Menschen ständig kontrollierende Strukturen und Abhängigkeiten schafft, gibt Johannes Paul II. der Person des Menschen den Vorrang vor allen Dingen (vgl. RH 16). Schon das II. Vatikanische Konzil nennt die Kirche "simul signum et tutamentum transcendentiae humanae personae" (vgl. GS 91, RH 13). Der Mensch ist der Weg der Kirche; Christus wiederum ist der Weg zum Vater und der Weg zu jedem Menschen (vgl. RH 13). Alle Wirklichkeit und auch alle künftige Wirklichkeit strebt nach der Wahrheit und Gnade des "unus in Christo"; so ist der Mensch selbst des Menschen beste Zukunft inmitten des ungewissen Ganges der bloßen Dinge.

11.1 Christus selbst ordnet seinshaft neu, was im Gang der zeitlichen Geschichte zunächst anders geordnet erscheint: Die göttliche Offenbarung im Gang der Geschichte scheint zeitlich deduktiv vorzugehen, sodaß Christus als von den Heiligen Schriften her begründet erscheint. Christus jedoch ist keine "Folgerung" aus den Schriften, sondern das erschließende Licht aller Offenbarung: "Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist" (DV 2). Nichts also kann über die gottgeschenkte Wahrheit des Menschen und über die Wahrheit über den Menschen gesagt werden, was sich nicht in Christus begründet.

11.2 So konzentriert sich alle theologische Argumentation auf das tragende Heilsverhältnis aller Zeiten: unus in Christo; nichts kann von "außerhalb" dieses Heilsverhältnisses hinzugefügt oder hineingetragen werden. Die entscheidenden Fragen des Menschseins formulieren sich nicht in einem Bereich des Wissens oder des geschichtlichen Fortschritts, so daß man zeitweilig den Menschen und dessen Christusverhältnis ausklammern könnte; vielmehr ist der Mensch selbst das ständige Thema der Wahrheit, das von allen Fragen betroffen ist, an dem nichts vorbeigeht. Für Johannes Paul II. gibt es kein theologisches Thema, das nicht ständig die Frage nach dem Menschen beantworten müßte. Diese theologische Option des "unus in Christo" ist keine künstlich herbeigeführte "Humanisierung" der theologischen Einsichten etwa nach der Methode einer durchgehend pastoralen Aktualisierung; nur im Menschen, "unus in Christo", hat das Theologische seine Wirklichkeit. Daher ist die Frage nach der Wahrheit aller theologischen Verhältnisse die Frage nach der Wahrheit über den Menschen.

12. Zuweilen ist es in manchen Theologien üblich geworden, von zwei Wahrheiten zu sprechen, von der pastoralen und von der theologischen, von der anwendbaren und machbaren und von der abstrakten und unlebbaren: der konkrete und der abstrakt gedachte Mensch werden wie unverbindbare Schichten gesehen. Die "doppelte Wahrheit" war im Lauf der Geistesgeschichte nicht selten ein Problem der Philosphen und der Theologen. Es ist Johannes Paul II., der in seiner Glaubenslehre eine neue theologische Bestimmung des "concretum" und "reale" vornimmt, die nicht mehr dem alten theologischen Gegensatz von Theorie und Praxis folgt, sondern die Frage nach der Wahrheit über den Menschen als die wesentlichste aller Fragen am Ort des personalen Vollzugs stellt. Soll also der alte, fruchtlose Gegensatz von Theorie und Praxis in Kirche und Theologie überwunden werden, muß eine solche Frage die personale Selbstgestaltung des Menschen in Christus berühren; es läßt sich durchaus also über die personale Dimension sprechen, die weder Theorie noch Praxis ist und dennoch jene personale Dimension der menschlichen Wirklichkeit ist, die menschlich ist, weil sie sagbare und erkennbare Wahrheit ist.

13. Mit der Menschenlehre des "unus in Christo" begibt sich die Theologie in jene Dimension des personalen Vollzugs, in der es nicht den Standpunkt des unbeteiligten Zuschauens, nicht des außenstehenden Beobachtens und nicht des gegenständlichen Gegenübers und nicht der bloßen Methode gibt. Das Ganze ist Ernstfall, das Ganze ist konkrete Identität, die kein Außerhalb und kein Gegenüber hat, das Ganze ist unbegrenzte Wirklichkeit, in der der Mensch steht oder eben nicht steht. In dieser konkreten Identität besteht alles "in einem", was wir zuweilen nur in zeitlicher Abfolge, in Teilen oder in Gegensätzen unangemessen mit menschlicher Begrifflichkeit beschreiben können. Johannes Paul II. gibt der Theologie den Begriff einer "Unendlichkeit", die in der Person des Menschen besteht und in seiner Unendlichkeit der Weg Christi zum Menschen ist: "Der Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will - nicht nur nach unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins - muß sich mit seiner Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündhaftigkeit, mit seinem Leben und Tode Christus nahen. er muß sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten, muß sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung 'aneignen' und assimilieren, um sich selbst zu finden" (RH 10). Jedes Urteil über den Menschen kann nur bestehen, wenn es die Wahrheit Christi als die Wahrheit über den Menschen ausspricht. Wenn heute manche Moraltheologen fordern, daß sittliche Normen "erfüllbar" sein müssen und dabei für Normen das Maß an die Bedürfnisse und Schwächen des Menschen anlegen, haben sie nicht nur die Allgemeingültigkeit und Absolutheit der sittlichen Gebote und Normen verneint, sondern auch die Christusdimension in der Wahrheit über den Menschen verneint.

14. Es gibt heute in der Kirche einen "Formalismus", der zunehmend von Wahrheit und Inhalt absieht und rein formal Geltung beansprucht. So genügt es z.B., etwas "aus Liebe" zu tun, um das Getane rechtfertigen zu können unabhängig von dessen Gegenstand; es könnte die schlimmste Tat sich rechtfertigen, wenn sie "mit Liebe" getan ist. Ähnliche Formalismen verwendet man, wenn etwas "mit Freiheit", "mit Gewissen", "mit demokratischer Entscheidung" oder mit dem "Konsens vieler" getan wird; allein der formale Modus entscheidet über den Wert des Handelns. Man hält für richtig, worin das Selbst des Menchen sich als Ursprung einer Tat oder Behauptung (mit Liebe, frei, mit Gewissen usw.) dartut. Dem jedoch setzt Johannes Paul II. immer wieder entgegen, daß der Mensch diese Berufbarkeit für seine Taten nicht im eigenen Selbst, sondern im Eintreten in das Geheimnis Christi suchen muß, damit er sich selbst findet (vgl. RH 10). Die Durchdringung des Menschseins durch Christus läßt den Menschen wahr sein und an Wahrheit gebunden sein, sodaß nichts am Menschen vorbeigeführt werden kann und alles im Menschen als jene Wahrheit offenkundig werden muß, die Christus als der Inbegriff aller Wahrheit dem Menschen kundtut.

15.1 Es ist die Person des Menschen, auf die alles Tun Gottes bezogen ist: Schöpfung, Erlösung und Heil. Auch die Welt der Dinge und des Wissens hat keinen Eigenstand, der für sich gelten könnte, ohne die Wahrheit über den Menschen auszusagen, denn nichts kann gegen oder ohne die Person des Menschen gelten. Sonst hätte die Forderung nach einer "Humanisierung" der Welt, der Arbeit, der Wissenschaften usw. keinen absoluten Sinn und wäre nur Ausdruck eines relativen historischen Bedürfnisses. Durch die Einverleibung des Menschen in das Geheimnis Christi gelingt nichts an Wahrem und Gutem, was nicht des Menschen ist. Die "reine Objektivität", die von aller Abhängigkeit von menschlicher Existenz absehen möchte, um Geltung an sich und für sich zu haben, muß sich in die Fragen des Menschen einbringen, um Anteil an jener Wahrheit zu haben, die sich durch Christus im Menschen kundtut.

15.2 In diesem Sinn sagt die Enzyklika "Veritatis Splendor", daß die gute Absicht nicht genügt, sondern es auch der richtigen Wahl der Werke bedarf, damit eine Handlung sittlich gut ist. Die menschliche Handlung hängt von ihrem Gegenstand und davon ab, ob dieser Gegenstand auf Gott hingeordnet werden kann und so die Vollkommenheit der menschlichen Person bewirkt. Eine Handlung ist daher gut, wenn ihr Gegenstand (Objekt) dem Gut der Person, unter Respektierung der für sie sittlich bedeutsamen Güter, entspricht (vgl. VS 78). Auch die guten Werke müssen gut getan werden, denn sie müssen Gott gefallen, um auf das letzte Ziel des Menschen hingeordnet werden zu können, um ein wahres Gut für die Person zu sein (vgl. ib.). Wenngleich die Person als der Träger des sittlichen Seins nicht nur von der guten Absicht, sondern auch von den Gegenständen des menschlichen Handelns bestimmt wird, sind dennoch alle Momente des sittlichen Handelns auf die Wahrheit der Person, vor allem ihrer Hinordnung auf Gott, bezogen. Es gibt ohne Zweifel Handlungen, die in sich schlecht, immer und an und für sich schon schlecht sind und wegen ihres Objektes immer schwerwiegend unerlaubt sind. Veritatis Splendor nennt im Anschluß an Gaudium et spes solche in sich sittlich schlechte Handlungen, die an und für sich und in sich nicht auf Gott und auf das Gut der menschlichen Person hinzuordnen sind (vgl. 8o.81).

15.3 In der Frage nach der Existenz in sich schlechter Handlungen konzentriert sich die Frage nach dem Menschen selbst, nach seiner Wahrheit und den sich daraus ergebenden sittlichen Konsequenzen (vgl. VS 83). In einer Welt von verschiedenen Situationen, von Unter- und Überordnung der Handlungen, die ohne die Mitte der Person gesehen wird, könnte es zu ständigen Verschiebungen der Grenze des Erlaubten bzw. Unerlaubten kommen. In der Wahrheit der gottbezogenen Person muß daher ruhen, was eine in sich schlechte Handlung immer und für immer und für jeden unerlaubt sein läßt. So dürfte der radikalste Satz der Enzyklika Humanae vitae dafür ein besonderes Zeugnis sein: Es ist nicht erlaubt, "nicht einmal aus sehr schwerwiegenden Gründen, das sittlich Schlechte zu tun, damit daraus das Gute hervorgehe" (14). Was der vollen Wahrheit über den Menschen widerspricht, kann niemals zum Erlaubten werden, auch nicht mit guten Motiven, nicht mit besonderen Umständen oder Absichten (vgl. VS 81). Wenn die Kirche die Unerlaubtheit sittlich in sich schlechter Handlungen lehrt, bleibt sie der vollen Wahrheit über den Menschen treu und achtet und fördert damit des Menschen Würde und Berufung (vgl. VS 83). Schließlich ist es Jesus Christus selbst, der die Wahrheit ist; in ihm vermag der Mensch mittels seiner guten Taten seine Berufung zur Freiheit im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz voll zu begreifen und vollkommen zu leben (vgl. VS 83). Die Wahrheit des "unus in Christo" ist gewissermaßen das Gleichnis der sittlich relevanten Gesamtwelt des Menschen mit ihren Gegenständen, Situationen, Motiven, Zielen, Absichten, Urteilen und Grenzziehungen.

16. Wenn man die bisherigen Wortmeldungen zur Enzyklika Veritatis Splendor überschaut, zeigt sich manchmal neben Zustimmung und negativen Vorurteilen, daß wohl die Botschaft des Papstes gehört wird, aber das neue theologische Denken des Heiligen Vaters noch nicht vollzogen wird. Viele benutzen noch das profane Instrumentarium des bloß gegenständlichen Erkennens und Denkens und erahnen noch nicht, daß die Wirklichkeit der Menschwerdung und Erlösung Christi eine neue, unbegrenzte, ganzheitliche, d.h. personale, Wirklichkeit in die Welt des Menschen gebracht hat; das personale Denken erhellt wohl das gegenständliche Denken, aber das personale Denken ist weder die Fortsetzung noch das Resultat des gegenständlichen Denkens. Die neue Ganzheit des personalen Denkens ist nicht wie eine objektive Tatsache unter anderen Tatsachen zu sehen; einmalig, unwiederholbar, unüberbietbar ist der Mensch als Person. Das neue Denken des Papstes wird dann begriffen, wenn der erste Verständnisgrund der Person nicht der Unterschied von vielen anderen Seienden, sondern die mit der Personhaftigkeit von Gott geschenkte Identität ist. In diese Identität tritt der Erlöser ein, wenn er sich mit dem Menschen eint: Unus in Christo. Das personale Denken in der Theologie steht erst an seinem Anfang und ist bei vielen noch bloßer Appell und bloß spirituelle Reflexion. Doch Johannes Paul II. hat eine irreversible Spur dafür gelegt: Der Mensch hat Vorrang vor den Dingen (vgl. RH 16).

17. Unsere Welt ist heute auf der Suche nach neuen Sicherheiten; waren es einst Militärbündnisse, Mauern und Stacheldraht, Aufrüstung, Bespitzelung und Unterdrückung der Freiheit, sind es heute Wirtschaftsmechanismen, Gebrauch der Massenmedien, Sozialsysteme, demokratische Institutionen und zahllose andere Strukturen und gemeinschaftliche Zusammenschlüsse, die eine neue und sichere Weltordnung erbringen sollen. In einer solchen Ordnung der Kräfte, die anonym und gewissermaßen mechanisch wirken, erinnert der Papst an eine Kraft, die für sich und nur in der Autorität der Wahrheit steht, die sich nicht aus den Dingen begründet, sondern die Dinge ordnet, die sich nicht mit den Verhältnissen der Geschichte ändert, die überall und für jeden Menschen gültig ist, die sich nicht vor dem Stärkeren beugt und dem Schwachen verpflichtet ist, die eine unlösbare Bindung des Menschen an Gott ist, die das Urteil des Menschen über sich selbst ist und ihn rechtfertigt oder anklagt. Diese Kraft ruht in der Besonderheit der Person und ist das Gewissen des Menschen; es ist das freie, der Wahrheit über den Menschen gehorsame Gewissen.

18.1 Das Herzstück der Enzyklika Veritatis Splendor ruht auf dem Thema Gewissen. Es wäre verfehlt, das Gewissen wie ein besonderes Organ des Menschen - vergleichbar dem Auge als Sehorgan - zu verstehen. Es soll hier auch nicht das Urteilen des Gewissens in einzelnen Schritten erörtert werden. Darüber hat Johannes Paul II. in unübertrefflicher Weise gesprochen; jede angemessene Darstellung könnte nur eine Wiedergabe der vorliegenden Enzyklika sein. Hier nun soll das Bestreben sein, das unausgesprochen Tragende, das "neue Denken" damit in Verbindung zu setzen: in welchem Maß ist das Gewissen der Person im "unus in Christo" verfaßt?

18.2 VS sagt, daß die Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes ihren lebendigen Sitz im "Herzen" der menschlichen Person, im sittlichen Gewissen hat (54). Eigen ist es dem Gewissen, ein sittliches Urteil über den Menschen und seine Handlungen zu geben; das Gewissen ist ein praktisches Urteil, das anordnet, was der Mensch tun oder lassen soll und drückt die sittliche Verpflichtung im Lichte des Naturgesetzes aus (vgl. 59). Das Gewissen beurteilt die menschlichen Handlungen als gut oder böse, es spricht uns frei oder verurteilt uns, je nachdem unsere Handlungen mit dem Gesetz Gottes übereinstimmen oder nicht. Das Gewissen ist die letzte maßgebliche Norm der persönlichen Sittlichkeit (vgl. 6o).

18.3 Mit der Bedachtnahme auf Menschenwürde und Menschenrechte, wurde das Gewissen immer mehr zum Thema der personalen Identität des Menschen. Die bloße Berufung auf das Gewissen ist noch keine sittliche Rechtfertigung des menschlichen Handelns, wenn das Gewissen einfach nur "entscheidet" oder eine allgemeine Norm auf konkrete Fälle "anwendet". Das Gewissen "ist keine autonome und ausschließliche Instanz, um zu entscheiden, was gut und was böse ist; ihm ist vielmehr ein Prinzip des Gehorsams gegenüber der objektiven Norm tief eingeprägt, welche die Übereinstimmung seiner Entscheidungen mit den Geboten und Verboten begründet und bedingt, die dem menschlichen Verhalten zugrundeliegen" (VS 60; Dominum et vivificantem 48).

18.4 Schon ist es auch üblich geworden, die Berufung auf das Gewissen einzusetzen, um Entscheidungen des einzelnen Gewissens gegen die allgemeinen objektiven Normen zu stellen, um sogenannte "pastorale Lösungen" im Gegensatz zur Lehre des Lehramtes zu rechtfertigen und um in einer Art "kreativer Hermeneutik" Ausnahmen von einem geltenden Gebot/Verbot zu behaupten (Vgl. VS 56).

19.1 Über das Gewissen kann viel abgehandelt werden; die entscheidende Frage des Gewissens jedoch ist, wie menschliche Freiheit und Wahrheit zueinandergehören. In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1991 hat Johannes Paul II. zum Gewissen festgestellt: "Keine menschliche Autorität hat das Recht, in das Gewissen eines Menschen einzugreifen. Dieses ist auch gegenüber der Gesellschaft Zeuge für die Transzendenz des Menschen und als solches unantastbar. Es ist jedoch nicht ein über die Wahrheit und den Irrtum gestelltes Absolutes; ja, seine innerste Natur schließt die Beziehung zur objektiven, allgemeinen und für alle gleichen Wahrheit ein, die alle suchen können und sollen" (I). Und gegenüber allen Versuchen, die Freiheit des Menschen gesellschaftlich zu bedrängen, setzt Johannes Paul II. das schwerwiegende Wort: "Die Wahrheit setzt sich nur kraft ihrer selbst durch" (ib. I).

19.2 Dieses schwerwiegende Wort kann nur angemessen begriffen werden, wenn klar ist, daß die Würde des Gewissens auf der Wahrheit beruht (vgl. VS 63). Dafür jedoch bedarf es einer einzigartigen, unbegrenzt geltenden und in ihrem eigensten Wesen stehenden Wirklichkeit; diese Wirklichkeit ist Jesus Christus selbst, der die Wahrheit ist (vgl. Joh 14,6). Die Wahrheit setzt sich nur kraft ihrer selbst durch, wenn sie unwandelbar von ihrem Anfang her (vgl. VS 53), wenn die Freiheit menschlichen Handelns mit dem Gesetz eins ist, wenn die Allgemeingültigkeit nicht durch Ausnahmen relativiert wird, wenn alles, was im Menschen in Gottes Wohlgefallen bestehen soll, schlechthin die Ganzheit des Menschen ist. Wer der Wahrheit zutraut, daß sie sich kraft ihrer selbst durchsetzt, daß die Wahrheit nicht dem Spiel der Kräfte unterliegt, daß die Wahrheit die ordnende Mitte und Gestalterin aller Verhältnisse ist, der muß auf jenen Erlöser setzen, der wahrer Gott und vollkommener Mensch ist, der in allem und ganz in das Selbst des sündigen Menschen eintritt, den Menschen beruft und heiligt, so daß er "unus in Christo" ist.

20.1 In einer Zeit, die oft dem bloßen "Haben" und nicht dem "Sein" und lieber der anonymen Macht als der personalen Entscheidung sich verschreibt, ist das Wort von der Wahrheit, die sich kraft ihrer selbst durchsetzt, ein mutiges, aber auch ein sehr zerbrechliches Wort. Johannes Paul II. ruft die Welt zur Neuevangelisierung auf. Es geht bei diesem neuen Aufbruch zu Christus - ein entscheidender Schritt dafür war der "Katechismus der Katholischen Kirche" - darum, daß die Wahrheit auch Wahrheit ist, die sich kraft ihrer selbst durchsetzt. Vieles gibt sich freilich als Wahrheit aus, was nicht Wahrheit ist: Die Lüge lügt sich fort, indem sie sich als Wahrheit ausgibt; die Wahrheit wird niedergehalten und verdunkelt durch die Sünde des Menschen; der zeitunterworfene Mensch kann dem Vorurteil des Zeitgeistes unterliegen; der Mensch kann fehlen und irren.

Wann also wissen und verkündigen wir die Wahrheit, die sich kraft ihrer selbst durchsetzt? Nicht nur der offenbarende Gott, sondern auch der geist- und willensbegabte Mensch sind am Ereignis der Wahrheit beteiligt. Es ist der "verklärte Mensch", der im Erlöser zu sich selbst gekommen ist, der jene Wahrheit zu kennen vermag, die sich kraft ihrer selbst durchsetzt. Gemäß seiner Wahrheit zu leben, ist für den Menschen das sittliche Ziel in allen seinen menschlichen Akten.

20.2 Vorgegeben aber ist uns die unveränderliche, allgemeine Wahrheit in Christus. Er ist der "Glanz jener Wahrheit", die für sich steht und gegen alle Mächte kraft ihrer selbst sich durchsetzt. Es ist die vom Göttlichen völlig durchwaltete Wahrheit des Menschen, der "Glanz der Wahrheit", die uns in Christus geschenkt ist: Gott "ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi" (2 Kor 4,6). Der Glanz der Wahrheit Christi ist nicht irgendeine Wahrheit, nicht eine summarische Wahrheit, nicht eine bedingte und nicht eine relative Wahrheit; bis in jede einzelne menschliche Handlung bedarf es der Wahrheit, damit sie im Glanz der Wahrheit steht. Der "Glanz" der Wahrheit ist die vollkommene Wahrheit in jedem und im ganzen; dieser faszinierende Glanz der Wahrheit ist Christus selbst durch sich selbst (vgl. VS 83).

21.1 "Glanz" ist mehr als ein frommes und schriftbezogenes Bild. "Glanz" ist der Anfang eines theologischen Begriffs für die Wahrheit über den Menschen, die kraft ihrer selbst in der Neuevangelisierung der Welt sich durchsetzen kann. "Glanz der Wahrheit" ist die zu sich selbst gekommene Wahrheit dessen, was grundgelegt ist im "unus in Christo". Durch sich selbst durchsetzen kann sich nur, was auch ganz und in jedem es selbst ist. Will also die Wahrheit über den Menschen sich durchsetzen, muß sie es auch selbst ganz sein. Was zunächst wie Autonomie und Selbstherrlichkeit einer Wahrheit über den Menschen erscheint, verwandelt seine Autonomie ins Einssein mit Christus, wenn wir den "göttlichen Glanz auf dem Antlitz Christi erkennen" und damit die Frage nach dem Menschen in Christus steht und in Christus beantwortet wird.

21.2 15 Jahre nun hat Papst Johannes Paul II. als das Oberhaupt der Kirche dem von ihm selbst geprägten Programm gedient: der von Christus erlöste Mensch ist der Weg der Kirche (vgl. RH 14). Gelungen ist dieser Weg dann, wenn wir in Christus den Menschen und im Menschen Christus erkennen; gelingen kann dieses Ineinandergehen von Christus und Mensch nicht in irgendeiner Wahrheit, sondern erst im "Glanz" der Wahrheit; jenem Glanz, der die Länge und Breite, Höhe und Tiefe des Menschen als Person und der Christus als den Erlöser umgreift und ausweist.

21.3 Die Botschaft vom Erlöser des Menschen, wie sie uns seit 15 Jahren Johannes Paul II. verkündigt, verdient die höchste Aufmerksamkeit und den Glaubensgehorsam aller Glieder der Kirche; alle Appelle zur treuen Verbundenheit und Lehrgemeinschaft mit dem Heiligen Vater haben neben aller Mühe auch die Gewißheit, daß sich seine Botschaft der "Wahrheit über den Menschen" durch sich selbst durchsetzt. Der Glanz der Wahrheit des "unus in Christo" sei für die ganze Kirche der Wiedergewinn der Autorität der Wahrheit, des Lehramtes, des recht gebildeten und urteilenden Gewissens. Uns Bischöfe fordere ich auf, das bischöfliche Lehramt stets auszuüben in jenem Glanz der Wahrheit, der keine Kompromisse kennt; im Glanz der Wahrheit erblühe die neue Einheit der Kirche durch gemeinsam gelehrten Glauben; im Glanz der Wahrheit wage sich die Kirche an die Neuevangelisierung in einer komplizierten Welt, in der sich die Wahrheit kraft ihrer selbst durchsetzen muß. Wir erwarten in der ganzen Kirche nunmehr die klare Wortmeldung auch zu schwierigen Fragen der Moral von den Bischöfen, Priestern und Gläubigen der einst schweigenden und verfolgten Kirche in Europa. Wir erwarten die Lehre der Bischöfe Afrikas und der anderen Kontinente.

22. Gott hat in Johannes Paul II. der Kirche den Weg im Glanz der Wahrheit gewiesen. Die Wahrheit Christi wird sich auch kraft ihrer selbst dort durchsetzen, wo der Glanz der Wahrheit in der Kirche durch Dissens mit dem höchsten Lehramt noch verdunkelt ist. Die Kirche möge die heute eintretende Scheidung der Geister nach dem Wort des Simeon an Maria verstehen: Viele werden durch Jesus Christus zu Fall kommen; viele werden durch ihn aufgerichtet werden; er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird (vgl. Lk 2,34). In dieser Begegnung und Auseinandersetzung des Menschen mit dem Erlöser bringt sich die Kirche täglich neu hervor. Für diese schwere Zeit der Kirche schenkte uns Gott einen Heiligen Vater, dessen Denken, Lieben, Wirken, Lehren und Leben für uns bedeutet: alles gehört euch, ihr aber gehört Christus und Christus gehört Gott (1 Kor 3,22 f.). Ad multos annos, ad plurimos annos, Heiliger Vater!


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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 05.12.1997.

 

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